: Schalke ohne Schalker
Heute vor zehn Jahren wurde das so genannte Bosman-Urteil gefällt. Seitdem hat sich der Profisport tief greifend verändert. Der Sportwissenschaftler Klaus Cachay hat dazu eine Studie angefertigt
VON BERND MÜLLENDER
Früher spielten auf Schalke Schalker. Lokale Identifikation war so selbstverständlich, dass niemand darüber redete. Wenn heute beim FC Bayern zufällig ein Münchner im Kader ist, gilt das als Kuriosum. Der Profisport hat sich tief greifend verändert, vor allem in der vergangenen Dekade: Vereine sind Kapitalgesellschaften geworden. Verbände haben sich mit weltweit agierenden Konzernen zusammengetan. Stadien sind Werbearenen mit Sponsorennamen, Turniere tragen Markennamen. Und die Spieler sind als Global Player tätig, wollen vor Ort aber immer noch als lokale Helden gefeiert werden. Ein Drahtseilakt.
Prof. Klaus Cachay, 58, Sportwissenschaftler der Uni Bielefeld, war einst selbst ein umjubelter Local Hero. In den 70er-Jahren spielte er Handball bei Frisch Auf Göppingen. Jetzt hat Cachay in einer dreijährigen Feldstudie den „Global Player – Local Hero“ untersucht: „Der Sportverein zwischen Spitzensport, Publikum und Vermarktung“. Zum Forschungsprojekt gehörten Meinungsumfragen in den Stadien, Untersuchungen der Vereinsstrukturen, Interviews mit Machern und Managern – im Fußball (Bayern München, Bayer Leverkusen), Handball (Lemgo, Kiel) und Basketball (Berlin, Frankfurt).
Der „radikale Wandel“, so Cachay, habe zu Beginn der 90er-Jahre eingesetzt, als sich „die territoriale Bindung des Spitzensports“ aufzulösen begann. Beschleuniger der Entwicklung war am 15. Dezember 1995 das Bosman-Urteil: Der belgische Kicker Jean-Marc Bosman hatte geklagt, dass seine Freigabe für einen neuen Club von einer Ablösezahlung abhängig gemacht sein wollte. Bosman gewann: Freie Wahl des Arbeitsplatzes geht vor, so der Europäische Gerichtshof, jeder müsse jederzeit überall spielen können dürfen, unabhängig vom Pass. Schnell fielen nationale Beschränkungen. Schon 1998 standen bei Borussia Mönchengladbach erstmals sechs Nichtdeutsche in der Startelf, gut zwei Jahre später lief bei Energie Cottbus erstmals eine komplette Ausländerelf auf.
Seidem sind, so die Bielefelder Studie, „sportspezifische Migrationsströme“ entstanden, mit Folgen, die im Extremfall so aussehen: Ein Spieler stammt gebürtig aus Land A, hat die Staatsbürgerschaft B, arbeitet in schneller Folge bei Clubs in den Ländern C bis F, deren Sponsoren aus G bis L kommen, der Trainer aus M, der Clubmanager aus N, der eigene Berater aus O und die Mitspieler aus P bis Z. Dieses komplexe Multikulti definiert für Cachay und seinen Co-Forscher Prof. Ansgar Thiel „die zentrale Frage“ ihres Vorhabens: „Wie gelingt es einem unter dem Druck der Globalisierungsdynamik stehenden Sportverein, gleichzeitig im Sport, beim lokalen und globalen Publikum sowie am Markt erfolgreich zu agieren?“
Statt der Herkunft, so Thiel, zähle bei einem Spieler heute neben der Leistung „die Zurechenbarkeit zu einem Leitbild, die Anpassung an ein Image und konstruierte Charakteristika“. Zentrale Aufgabe der Clubs: „Wie kann man einen Spieler platzieren, dass er verbindliche Gefühle im Publikum auslöst, also Publikumsbindung sichert?“ Übersetzt: Wann passt ein Spieler? Wie verkaufe ich Fremde als Kumpel von nebenan? Cachay: „Ein kluger und strategisch denkender Clubmanager wird sich überlegen, welche Identität hat meine Mannschaft, welche Typen sind als Zukäufe sinnvoll. Ich muss ihn einpassen in das Bild von meinem Verein, das ich kommunikativ verkaufen möchte.“ Also einkaufen, um sich selbst gut zu verkaufen.
Drei maßgebliche „Möglichkeiten der weltweiten Spielerrekrutierung“ gibt es erstens: Über eigene Scouting-Abteilungen. Bayer und Bayern haben dafür je vier oder fünf festangestellte Leute. Manche Spieler, sagt der Bielefelder Soziologe Lars Riedl, „werden von der Jugend an über Jahre beobachtet und dann, wenn Bedarf ist oder wenn der Mann Juniorennationalspieler zu werden droht, was ihn sofort teurer macht, gilt es sofort zuzuschlagen. Da braucht es exzellente Netzwerke.“ Zweitens haben alle großen Clubs „weltweite Dependancen, wo Honorarangestellte Berichte schreiben. Bei einem Club kommt alle 14 Tage aus 26 Ländern ein Report.“ Gigantische Archive seien so entstanden, mit Daten auch über „charakterliche Eigenschaften“: „Da fließt ein, wie verhält der Spieler sich am Kiosk, was kauft der immer beim Bäcker.“ Auf Variante drei, die Spielermakler, greifen die großen Clubs hingegen kaum noch zurück.
Wer aber, unabhängig von Größe und Brötchenvorlieben, funktioniert wo, wer nicht? Worauf beruht Identifikation des Publikums? In Schalke passt Gerald Asamoah seit Jahren sehr gut. Der gebürtige Ghanaer mit deutschem Pass ist der erste Schwarze in der DFB-Elf, lässt sich von Manager Rudi Assauer „Blondie“ nennen und als Good Guy verkaufen: „Kann sein, was will: Wenn du den triffst, der lacht immer.“ Asamoah bediente selbst bald die Ruhrpott-Mentalität: „Wir in Schalke waren doch schon immer ein Malocher-Verein.“ Asamoah, so Ansgar Thiel, schließe sich „mit einer Spur Exotik deutschen Tugenden an“. Und Cachay ergänzt: „Das Publikum nimmt sehr sensibel wahr, ob Aussagen ehrlich sind.“
Insgesamt gilt, so die Studie: „Die Nationalität der Spieler ist nahezu bedeutungslos geworden.“ Indes, Mannschaften verändern sich immer schneller, nicht eben ein Indiz für Identität. Warum gehen die Menschen trotzdem ins Stadion, zudem in steigender Zahl? Das wurde in einem Fragebogen erkundet. „Ob auf VIP-Tribüne oder in der Kurve – alle haben ganz oben stehen: Emotionen erleben!“, sagt Riedl, „ohne Unterschiede zwischen den Sportarten, auch nicht bei Alter und Geschlecht. Diese Einheitlichkeit war schon überraschend: dass Basketball in Berlin genauso funktioniert wie Fußball bei Bayern.“ Dort übrigens, und das hätten, so Cachay, auch Hoeneß und Co. so genau nicht gewusst, reist jeder Vierte mehr als 400 km für ein Spiel an.
Das „Bedienen von Emotionserwartungen“, so die Studie, „dürfe aber nicht in vordergründige Eventisierung und Inszenierung ausarten. „Deshalb“, sagt Cachay, „bleiben Würstchen im Stadion immer sehr wichtig.“ Ausdrücklich hoch gewertet haben die Befragten ansonsten Begriffe wie Ehre, Tradition, Verbundenheit und Kontakt der Kicker zum Publikum. Äußeres Zeichen: das gelegentliche Emblemküssen eines Spielers nach Torerfolg. Cachay: „Mich wundert, dass die Vereine das nicht noch strategischer fördern.“
Die Kommerzialisierung hingegen muss unbedingt versteckt werden. „Reduziert sich alles auf Konsum eines Spiels“, so Riedl, „bleibt das Publikum ganz schnell weg, wenn sie merken, dass sie als Person nicht wichtig genommen werden.“ Hart rechnen und weich kommunizieren? „Genau so“, sagt Cachay. „Geld bindet nicht, Geld entbindet. Manager reden oft sehr naiv von der Ware, von ihrem Produkt. Das kann sehr gefährlich werden.“ Vorbild sei der FC Bayern: „Uli Hoeneß ist eine hochinteressante Galionsfigur. Er ist als Teil der Führungs-Mannschaft für die Kommunikation zuständig. Ums Geld kümmert sich Herr Hopfner – und der tritt fast nie auf.“
Die Clubs als „hybride Organisationen“ spielen, definiert Cachay, immer „zwei Spiele gleichzeitig, mit völlig verschiedenen Handlungslogiken: Gewinnen und nicht verlieren ist das eine, das andere: Geld haben oder nicht. Die decken sich nicht immer, deshalb ist und bleibt das hochkonfliktionär.“ Und: Die Rolle des Spielers als Local Player hat mittlerweile oft der gesamte Club übernommen: Der versuche imagegerecht „heimatliche Bindung zur Stadt aufzubauen oder sogar den Status einer gesellschaftlichen Institution zu erreichen“. Das gilt gleichermaßen für den FC Zickezacke Dorfelsen wie beispielsweise für den Karlsruher SC oder für Showgebilde der Globalmarke Real Madrid.
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