Meister der Skrupellosigkeit

Shakespeare und die Sieben Samurai: Die Filme des Regisseurs Akira Kurosawa waren eine wichtige Drehscheibe für den kulturellen Transfer zwischen Japan, Europa und den USA. Dass es in seinem Werk noch Entdeckungen zu machen gibt, zeigt gerade eine riesige Retrospektive im Wiener Filmmuseum

VON DOMINIK KAMALZADEH

Akira Kurosawa ist immer noch der erste Name, der mit dem japanischen Kino assoziiert wird. Die Gründe hierfür erzählen von den Bedingungen der westlichen Rezeption. 1951 lief sein Film „Rashomon“ auf den Filmfestspielen von Venedig, ein exotischer Satellit im Wettbewerb, der dann überraschend den Goldenen Löwen gewann. Das war der Anfang der Auseinandersetzung mit der japanischen Kinematografie. Weitere Regisseure wie Kenji Mizoguchi oder Yasujiro Ozu, im Grunde charakteristischere Autoren ihrer Kultur, blieben noch zu entdecken.

„Rashomon“ gehört den jidaigeki an, der sehr populären Form des japanischen Historienfilms, der sich bevorzugt mit den feudalen Werten der Vergangenheit befasst. Als solcher ist Kurosawas Film allerdings ein sehr untypisches Beispiel. Die berühmt gewordene Erzählstruktur des Films, die das fatale Zusammentreffen eines reisenden Ehepaares mit einem Räuber aus vier verschiedenen Perspektiven verhandelt, ist das offensichtlichste Zeichen seiner Modernität. Die Wahrheit jedwedes Erzählens wird hier in Zweifel gezogen, aber auch der tradierte Umgang mit Begriffen wie Loyalität und Ehre in Frage gestellt.

Kurosawa, der 1910 in Tokio geboren wurde und mit „Sugata Sanshiro“ („Judo-Saga“) bereits 1943 sein Regiedebüt gab, erzielte in den 50er-Jahren seine größten internationalen Erfolge. Sie festigten seinen Ruf als Humanisten, der seine Charaktere mit einer Moral versah, die es stets erst abzuwägen galt – einerlei, in welchem Genre er sich bewegte. Auch die Auffassung, er sei der „westlichste“ Regisseur seiner Generation, rührte aus dieser Zeit. Das Samurai-Epos „Shichinin no samurai“ („Die sieben Samurai“, 1954) erfuhr von John Sturges ein Remake als Western („The Magnificent Seven“), Clint Eastwood bediente sich an „Yoyimbo“ („Der Leibwächter“, 1961) für seine Figur des Namenlosen in „A Fistful of Dollars“, und sogar George Lucas nahm für „Star Wars“ Anleihen an „Kakushi toride no san-akunin“ („Die verborgene Festung“, 1958).

Der kulturelle Transfer verlief auch in die andere Richtung. Kurosawa griff selbst gerne auf westliche Vorlagen zurück, bevorzugt auf Shakespeare, wovon seine Macbeth-Adaption, „Kumonosu-jo“ („Das Schloss im Spinnwebwald“, 1957), eine der eindringlichsten ist. Seinen Lieblingsdarsteller Toshiro Mifune, lange Zeit eine so wandelbare wie physische Größe in seinem Werk, schickt Kurosawa darin durch Nebel und Donner in eine todbringende Erkenntnis. Kaum ein Regisseur hat die visuellen Möglichkeiten Shakespeares so ausgekostet: Kulissen werden in „Kumonosu-jo“ wortwörtlich lebendig. Sie umzingeln das zentrale Subjekt, das sich über seine Maßlosigkeit im Wahn verliert.

Gerade wird Kurosawa in einer riesigen Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum gewürdigt. Sie macht aber auch deutlich, dass die interkulturelle Rezeptionsgeschichte den Blick auf andere Facetten im Werk Kurosawas verstellt. Ist es nicht sonderbar, dass neben dem Regisseur des Historienfilms der unermüdliche Erforscher der Gegenwart stets im Hintertreffen blieb? Bereits 1949 dreht er mit „Mora inu“ („Ein streunender Hund“) einen grimmigen Polizeithriller, der sich mit geradezu neorealistischer Durchlässigkeit den Traumata des Krieges stellt. Ein junger Polizist verliert seinen Colt, die Opfer, die dieser in den Händen anderer verursacht, sieht er als die eigenen an. Auf seiner Suche nach der Waffe taucht er in die Armenviertel Tokios ein, und in einer achtminütigen Sequenz wird der Film ganz zum Kinoauge, das die Bewegungen der Menschen der Stadt protokolliert.

„Warui yatsu hodo yoku nemuru“ („Die Bösen schlafen gut“, 1960), lose auf Hamlet basierend, ist dagegen das sehr frühe Beispiel eines Verschwörungsthrillers, der im Umfeld eines Großunternehmens spielt. Der zentrale Protagonist Koichi Nishi sucht Rache an jenen Vorgesetzten, die seinen Vater in den Freitod getrieben haben, und verfängt sich dabei zunehmend in einem moralischen Dilemma. Kurosawa inszeniert eine Meisterschaft der Skrupellosigkeit.

Erstmals auf Breitwandformat drehend, setzt er, gegenläufig zur viel gerühmten Dynamik seiner anderen Filme, Bedrohung als beunruhigende Zeichen inmitten starrer Tableaus um. Nishi arbeitet mit Symbolen, die den Schuldigen Angst einflößen und sie aus der Reserve locken sollen – bis daraus ein Katz-und-Maus-Spiel wird. Die Thrillerformel nützt Kurosawa in „Warui yatsu hodo yoku nemuru“ wie auch in „Tengoku to jigoku“ („Zwischen Himmel und Hölle“, 1963) dazu, Aussagen über soziale Gefälle zu treffen, auf formal höchstem Niveau. „Tengoku to jigoku“ beginnt als Entführungsdrama in der Villa eines reichen Geschäftsmanns, die in den ersten 40 Minuten nicht verlassen wird. Eine furios inszenierte Geldübergabe in einem Zug leitet über in die erhitzten Straßen Yokohamas, wo dann weniger die Jagd auf den Täter als die Koordination derselben in den Mittelpunkt rückt. Auf dem Weg vom Himmel in die Hölle, von statischen Einstellungen zu hektischen Montagen, wird unklar, wer hier der eigentliche Schuldige ist.

In seinem Spätwerk, in monumentalen Stillleben wie „Dersu Uzala“ („Uzala, der Kirgise“, 1975), „Kagemusha“ (1980) und „Ran“ (1985), die nur mit ausländischen Geldern finanziert werden konnten, ließ Kurosawa den kühlen Modernismus dieser Filme wieder hinter sich. Heute zeigen allerdings gerade diese Arbeiten auf, dass sein Werk steht noch manche (Wieder-)Entdeckung birgt.

Die Retrospektive im Wiener Filmmuseum läuft bis zum 9. Januar 2006