JAN FEDDERSEN über PARALLELGESELLSCHAFT
: Hund, Kopftuch und Flachbildschirm

Neukölln im Weihnachtsrausch – das Zuckerfest war kaum vorbei, schon wurden die ersten Wunschzettel geschrieben

Was er denn da in der Hand halte, fragte der Kioskbesitzer Ahmet. Der Kleine zählt sieben Jahre und kommt jeden Tag. Immer auf dem Heimweg von der Schule, jetzt in dicker Jacke, mit mächtiger Mütze und gewaltigem Ranzen. In der einen Hand trägt er, wie eine Hostie, ein leicht angeknüddeltes Papier.

„Mein Wunschzettel“, antwortet der Nachbarjunge stolz, sagt: „kannst auch gucken“, und fragt, ob er für „zehn Cent hier was Süßes kriegt“. Zwei Bonbons, klar, eine Lakritzstange dazu, aber was steht denn auf seiner Agenda nun verzeichnet? „Ein Hund und ein Flachbildschirm.“

Ein Blick reicht: Der Zettel mochte aussehen, wie er aussieht, aber auf ihm zu lesen standen akkurat ebendiese beiden Dinge notiert. Klar, unmissverständlich, frei in der Äußerung dringender Bedürftigkeit – ein frohes, wunderbar unverschämtes Kind arabischstämmiger Eltern, wach und offenbar gut in der Schule, wie seine saubere, entschlossene Schrift verrät.

Weihnachten in einem Viertel, das multikulturell genannt werden darf; ein hoher Anteil türkischer und arabischer Kinder geht dort in die Schulen.

Weihnachten? Hatten die muslimischen Berliner nicht neulich erst Zuckerfest gefeiert? Was haben Allah mit Krippe und Jesus und Maria und Josef und Bethlehem zu tun? Na, so viel wie für nichtmuslimische Neuköllner auch, nämlich fast gar nichts. Heiligabend, so muss man das wohl verstehen, ist ein Familienfest – und gute Tradition ist eben, sich dann zu beschenken.

Kinder wissen das am allerbesten, und nach meiner Beobachtung sind da muslimische Gören so schlau wie alle anderen: Man wünscht, um es zu erhalten, und zwar unterm Tannenbaum. Auf dem Grünmarkt am Richardplatz sieht man denn auch türkische Väter, die sich um nadelarme Gewächse anstellen, Nordmann oder Blautanne?

Ahmet jedenfalls will einen Hund, was nach muslimischem Verständnis zwar ein unreines Tier ist, aber ein Hund ist ein Hund und also süß: „So einer wie neulich im Fernsehen, der Punkte auf dem Fell hatte und weiß war.“ Womit man erfährt, dass man in seiner Familie „101 Dalmatiner“ in der DVD-Bibliothek vorrätig hat: „Aber der Flachbildschirm ist für meinen älteren Bruder, und wenn der große Fernseher bei uns raus ist, dann habe ich auch Platz für einen Hundekorb.“ Soll einer noch sagen, in Deutschland verkümmere bei den Jüngsten die praktisch orientierte Intelligenz: Wer so grübelt und wägt und bedenkt wie Ahmet, der tut das nicht nur zur Weihnachtszeit – der wird Innenarchitekt für die Bedürfnisse von Großstadtbewohnern auf engem Wohnraum.

Neukölln ist das Viertel, in dem das Fest der Familie zugleich als eines des Lichts begriffen wird. Kein Haushalt, der nicht mit irritierend grell blinkenden Konstruktionen zur Straße hinaus etwas beiträgt zu einer Las-Vegas-artigen Lightshow. Und jedes Jahr wird es doller. Als ob die einen sagen: „Meiers sollen sich nicht einbilden, ihre Lichterkette sei die Krönung!“ – und die anderen, al-Ghaneris aus dem fünften Stock, im Jahr drauf zurückleuchten: „Wir können besser!“ Ahmets Vater hat im Übrigen die Lichtorgie auf dem Balkon selbst gefertigt: „Hat er im August anfangen zu bauen, mit Kumpels.“ Von weitem sieht sie nachts wie eine Hundeschlittenprozession aus – wobei die Nase des Leithundes alle acht Sekunden blau aufleuchtet. Auch mit vagem Kunstverstand muss man anerkennen: Hübsch, das.

Die Elektrohändler rund um die Karl-Marx-Straße, den Broadway des Bezirks, sind alle glücklich. Flachbildschirme werden verkauft wie verrückt, auch DVD-Recorder mit Festspeicher, Evergreens wie Lockenstäbe, Mikrowellen und Handys gehen natürlich auch. Parallelgesellschaft Neukölln – im segenstiftenden Rausch der Warenzirkulation.

Was aber wird Ahmet, mal zwischen zwei zusätzlichen Bonbons einvernommen, seiner Mutter und seiner Schwester schenken? „Mmh … Kopftücher, vielleicht. Für meine Mutter eines mit weißen Perlen und für meine Schwester mit Perlen.“ Die Garnitur ist so nötig wie zweckvoll, „denn Fatma hat sich gerade verliebt und Timo aus der anderen Klasse weiß das noch nicht“.

Alle Geschenke gekauft? kolumne@taz.de Morgen: Robin Alexander über SCHICKSAL