Künstlerroman der Spätmoderne: Elektromusik ist auch keine Lösung
Sind wir zu leicht für einen anständigen Untergang? Norbert Niemanns Roman „Die Einzigen“ erzählt drei Jahrzehnte einer Liebesbeziehung.
Es ist wie ein Weckruf, als Harry Bieler auf einer Beerdigung seine einstige Bandkollegin Marlene trifft. Die gemeinsame Zeit, als sie noch in einem Trio auftraten, ist lange passé. Während er sich als Erbe um die Sanierung eines Seifenunternehmens abmüht, das „nach wie vor den Geist der sechziger Jahre atmete“, leuchtet mit der unvorhersehbaren Begegnung ein Sehnsuchtshafen am Ende des Horizonts auf. Bietet die unnahbare Femme mysterieuse nun endlich den erhofften Ausbruch aus einer Existenz des an „Mittelmäßigkeit“ leidenden „Nachrückers“?
Mit seinem neuen Roman „Die Einzigen“ legt Norbert Niemann eine konzentrierte Liebespartitur um Hingabe, Identität und die Kraft der Musik vor. Ohne Zögern beschließt Harry, seinem Leben eine Wende zu geben und Marlene nach Venedig zu folgen. Angespornt durch ihr kompromissloses Aufgehen in eigens komponierter Elektromusik, entdeckt auch der Unternehmer seinen Sinn für das Schöne und Wahre wieder.
Kurzerhand entstaubt er mithilfe eines „Marketing-Maniacs“ das Image der väterlichen Firma, um sie danach doch in die Insolvenz zu steuern. Seine Geliebte fristet derweil noch das einsame Dasein einer avantgardistischen Exotin, deren Durchbruch auf sich warten lässt. Sie erinnert an das dem Lehrer den Kopf verdrehende, auratische Mädchen in Niemanns früherem Roman „Schule der Gewalt“.
Große Träume, geplatzte Seifenblasen. Indem der 1961 geborene Ingeborg-Bachmann-Preisträger eine fast drei Jahrzehnte umspannende, von Künstlerkapriolen und Selbstzweifeln geprägte Liebesbeziehung nachzeichnet, erzählt er eine Geschichte um die vergebliche Sinnsuche in der Spätmoderne.
Norbert Niemann: „Die Einzigen“. Berlin Verlag, Berlin 2014, 304 Seiten, 19,99 Euro
Überall Wohlfühloasen
Auf die goldene Ära der gemeinsamen, titelgebenden Combo „Die Einzigen“ folgen die ernüchternden Neunziger: „Die Geschäftspassagen mit ihren Wohlfühl-Oasen […] überall im Land die gleichen Straßenschilder mit ihren nahezu identischen Fassaden.“ Konformismus und Oberfläche an der Schwelle zum neuen Jahrtausend. Auch dieses hält nicht mehr als das Bewusstsein verlorener Utopien bereit.
Vor einem Jahr gingen die Menschen in Kiew auf die Straßen, der Maidan wurde zum Ort ihrer Revolution. Ein Theaterstück zum Jahrestag lesen Sie in der taz.am wochenende vom 21./22. Februar 2015. Außerdem: Unser Autor ist per Bus von Deutschland in die Ukraine gefahren. Seine Mitreisenden sind die, in deren Land Krieg herrscht. Und: Weil China wächst, will die Regierung den Reis als Grundnahrungsmittel durch die Kartoffel ersetzen. Aber sie schmeckt den Chinesen nicht. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen http://taz.de/we
In den nuller Jahren folgt auf die zwischenzeitlich in die Brüche gegangene Beziehung ein letzter Rettungsversuch. Anknüpfend an Thomas Manns „Der Tod in Venedig“ sucht Niemanns desillusionierter Held noch einmal die italienische Lagunenstadt auf. Nicht sie „erschien Harry plötzlich das Relikt einer untergegangenen Kultur zu sein, sondern er gehörte einer von vornherein toten Epoche an, die noch nicht einmal genug Gewicht besaß, um untergehen zu können“.
Auf den Spuren Gustav von Aschenbachs spürt auch er dort Dekadenz und Verfall, scheint sich in dem Labyrinth, das zugleich als Spiegel einer leeren Gegenwart dient, zu verlieren, bis er doch noch sein Ziel findet: die Oper.
Liebesduett und Zeitdiagnose
Hierin soll Marlene mit einem Konzert ihren späten Aufstieg am musikalischen Sternenhimmel feiern. Aus dem dionysischen Rausch geht jedoch nur eine beklemmende Perversion hervor: Mittels implantierter Mikrochips möchte sie ihre Gefühle in Töne umwandeln. Der Körper ist ein Instrument geworden, über das sie allerdings keine Kontrolle mehr besitzt. Ein dissonantes Geräuschgebaren endet in einem Desaster.
Was bleibt also vom Welttheater? Vielleicht, Niemann zufolge, die Rettung der Kunst, die sich des Konsums entzieht und der Liebe bedarf. „Du bist der Einzige, der mich hören will und der es inzwischen manchmal […] kann“, so Marlene am Ende zu ihrem treuen Begleiter. Mit „Die Einzigen“ entfaltet der Autor Liebesduett und Zeitdiagnose gleichermaßen.
Trotz aller sprachlichen Sensibilität gelingt es ihm aber kaum, einen angemessenen Sound zu finden für die elektronische Sphärenmusik, um die Marlene und das Buch kreisen. Wie bei seinen Figuren klaffen ebenso bei Niemann Wunsch und Realität auseinander. Der „Kosmos der Töne“ bleibt eine solide Prosa ohne Klang.
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