RALPH BOLLMANN POLITIK VON OBEN
: Merkels Jerusalem

Der Steuerstreit ist auch nach sechs Wochen Machtwortdebatte ein ungelöstes Problem. Womöglich bleibt er das für die nächsten 3.000 Jahre

An der entscheidenden Stelle wäre ich beinahe eingenickt. Wieder einmal fragte ein arabischer Kollege nach der deutschen Haltung zum Nahostkonflikt, ein Ritual, das sich in der Berliner Bundespressekonferenz regelmäßig wiederholt. Diesmal schlief ich sogar mit gutem Gewissen, denn bevor ich in den Pressesaal ging, hatte mich ein israelischer Historiker im Morgenradio mit einem wunderbaren Satz beglückt: „Jerusalem ist ein ungelöstes Problem schon 3.000 Jahre lang, und vielleicht bleibt es auch ein ungelöstes Problem für die nächsten 3.000 Jahre.“

Ich wachte auf, als die deutschen Journalisten plötzlich zu lachen begannen. Das wunderte mich, denn die meisten sahen die Sache mit dem Nahen Osten ungefähr so wie der Historiker. „Lebenszeichen aus dem Kanzleramt, sehr schön“, amüsierte sich einer. Es gelang mir, die Frage aus dem Halbschlaf heraus zu rekonstruieren: „Können Sie mir sagen, ob es von der Bundeskanzlerin irgendein Lebenszeichen gibt?“ Das hatte sich auf ein paar frühere deutsche Botschafter bezogen, die von der Regierungschefin mehr Kritik an der israelischen Siedlungspolitik verlangten. Diese Szene spielte sich im Dezember ab. Sie scheint aber nur allzu gut zur politischen Lage zu passen, zu einer Debatte, die damals noch gar nicht richtig begonnen hatte.

An diese Episode musste ich denken, als die Koalitionsparteien für diesen Sonntag ein Gipfeltreffen im Kanzleramt anberaumten. Der graue Betonbau bot zuletzt die Kulisse für eher freudlose Auftritte. Als Merkel dort im Dezember wegen der Steuersache den Regierungschef von Schleswig-Holstein empfing, zeigte sie sich erst gar nicht. Nach einem „Bildungsgipfel“ mit den Ministerpräsidenten trat sie zwar vor die Presse, sprach aber nicht über Bildung, sondern über Steuern. Die zuständige Fachministerin sagte daraufhin ein eigenes Statement wieder ab, weil sie merkte, dass es um ihr Thema bei dem Treffen überhaupt nicht ging.

Die Suche nach dem Lebenszeichen aus dem Kanzleramt nahm in den folgenden Wochen absurde Züge an. „Es gibt genügend zu tun, aber wir können das auch schaffen“, zitierte eine Nachrichtenagentur in ihrer Verzweiflung die Kanzlerin. Der folgende Satz lautete dann allerdings: „Dies bezog Merkel auf den Erhalt der Tier- und Pflanzenarten.“

Kaum weniger amüsiert verfolgte ich die Ratschläge, die Kanzlerin solle ein „Machtwort“ sprechen, „Basta“ sagen, einen „Neustart“ wagen. Teils empfahlen das die gleichen Leute, die im Herbst noch erläutert hatten, warum Schwarz-Gelb im Vergleich zur großen Koalition das kleinere Übel sei. Die treffend, wenn auch zähneknirschend analysiert hatten, dass Merkels Vorgänger Schröder an seinen Machtworten zugrunde ging. Ich befragte das Internetlexikon Wikipedia. Dort heißt es, für einen Neustart müsse man „den Reset-Knopf am Rechner drücken, der bei modernen Computern immer häufiger fehlt“.

Am Donnerstag sprach dann die Kanzlerin selbst. „Ich stelle die Steuerstrukturreform nicht infrage“, sagte sie in einem Zeitungsinterview. „Sie ist nach dem Koalitionsvertrag möglichst bis 2011 umzusetzen. Dabei bleibt es.“ Aha. Es bleibt beim möglichst. Ich höre den israelischen Historiker aus dem Morgenradio. Der deutsche Steuerstreit ist ein ungelöstes Problem schon 3.000 Jahre lang. Vielleicht bleibt er auch ein ungelöstes Problem für die nächsten 3.000 Jahre.

Der Autor leitet das Parlamentsbüro der taz Foto: M. Urbach