Bewegung mit hohem Durchlauf

taz-Serie „1980/1990 – besetzte Zeiten“ (Teil 6): Vor 25 Jahren stoppte die Polizei die Besetzung eines Hauses. Die „Schlacht am Fraenkelufer“ gilt als Beginn der autonomen Bewegung in Berlin

Ein politisches Anliegen wurde den Autonomen immer wieder abgesprochen

VON FELIX LEE

Die beiden Polizisten werden sich nicht viel bei diesem Einsatz gedacht haben. An einem kalten späten Dezembernachmittag tauchten sie auf einem Straßenfest am Fraenkelufer in Kreuzberg auf. Mit gezückten Waffen rannten die Uniformierten auf das Gebäude am Fraenkelufer 48 zu. Sie wollten verhindern, dass eine Hand voll Jugendlicher das Eingangstor des leer stehenden Vorderhauses auframmten. Panik machte sich breit. Wenig später brannte ein Funkwagen. Daraus entwickelte sich die größte Straßenschlacht, die Kreuzberg bis dato erlebt hatte. Erst in den frühen Morgenstunden beruhigte sich die Lage wieder. Der Mythos der langen Kreuzberger Krawallnächte war geboren.

Über die Geburtsstunde der Autonomen gibt es sehr unterschiedliche Angaben. Einige Zeitzeugen werden darauf verweisen, dass es bereits Anfang der Siebzigerjahre eine Zeitschrift gab, die Autonomia hieß. Andere werden auf Grohnde und Brokdorf verweisen, wo 1977 schwarz Vermummte beim Protest gegen die Atomkraftwerke eine Polizeikette gesprengt hatten. Dritte sehen in den großen Krawallen während der öffentlichen Rekrutenvereinigung in Bremen im Mai 1980 die Stunde null. Für die Westberliner Szene aber war der 12. Dezember 1980 ein einschneidender Tag.

Denn die „Schlacht am Fraenkelufer“ lockte in den folgenden Monaten tausende SympathisantInnen aus der gesamten damaligen Bundesrepublik in den von der Mauer umringten Stadtteil. Über 150 Häuser wurden allein innerhalb der nächsten fünf Monate besetzt. Der heruntergekommene SO-36-Kiez, der bis dahin bereits als abgeschrieben galt, erwachte aus seinem tiefen Schlaf. Erstmals nahm die Idee einer „Freien Republik Kreuzberg“ konkrete Züge an.

Zwar dauerte es noch eine Weile, bis auch Vertreter der Polizei und die Springerpresse von den „Autonomen“ sprachen und nicht mehr nur von „notorischen Chaoten“ oder „wilden Großstadtfightern in Lederjacke und abgewetzter Jeans“. Doch seit dem 12. Dezember 1980 vergeht kein linker Protestaufzug ohne einen schwarzen Block mit besonders dunkel gekleideten DemonstrantInnen.

Erst widmeten sich die Autonomen dem Häuserkampf, dann folgte am 1. Mai 1987 der Polizeieinsatz gegen ein Straßenfest am Lausitzer Platz, was die gewalttätige Tradition am Tag der Arbeit begründete. Ein Jahr später wurde gegen die Tagung des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Berlin demonstriert. Nach dem Mauerfall wurden schließlich erneut Häuser besetzt – dieses Mal im Ostteil der Stadt. Auch gegen die Olympiabewerbung Berlins wurde mobilisiert.

Zwischen den Events ging es um das Leben und Arbeiten in Kollektiven, Debatten um die Überwindung des Kapitalismus, die immer wiederkehrende Gewaltfrage und die antifaschistischen und antirassistischen Kämpfe. Mehrere zehntausend Leute in Berlin haben in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten zumindest zeitweise eine autonome Phase durchlebt. Und einige hundert tun das auch heute noch.

„Was wollen die Autonomen?“ Die Frage sorgte nicht nur bei Jugendforschern und beim Staatsschutz für Kopfzerbrechen. Auch innerhalb der Bewegung führte sie immer wieder zu Zerwürfnissen. Abgesehen vom Antifaschismus gelang es den Autonomen weder, nachhaltig Themen zu setzen, die dann irgendwann von der etablierten Politik aufgegriffen wurden. Noch erzeugten sie einen kulturellen Wertewandel in der Gesellschaft wie die StudentInnenbewegung der 68er-Proteste. Ein politisches Anliegen wurde den Autonomen von Bewegungssoziologen und Politikern immer wieder abgesprochen. Auch intern wurde kritisiert, die Vermummung und das martialische Auftreten in Schwarz seien zum Selbstzweck verkommen.

In der Tat sprechen die vielen informellen Strukturen dafür, dass es sich bei den Autonomen eher um eine Subkultur handelt als um eine eigenständige politische Bewegung. Die starke Fixierung auf die eigene Szene und die immer wiederkehrende Rückzugsgefahr ins Kreuzberger Idyll sind kaum Anzeichen für eine dauerhafte außerparlamentarische Politik.

Anders als etwa die Umweltbewegung, deren einstige Protagonisten inzwischen längst an der Spitze etablierter Verbände sitzen, bot die autonome Szene über das Jugendalter hinaus nur wenig Anknüpfungspunkte, die „Politkarriere“ weiter zu verfolgen. Dafür blieben die Autonomen zu kompromisslos. Andererseits war genau das ihre Stärke. In all den Jahren blieben sie sich und ihren Vorstellungen treu. Wer ausscherte gehörte einfach nicht mehr dazu. Entsprechend groß war zwar der Durchlauf. An Neuzugängen mangelte es ihnen aber trotzdem nicht.

Daher kann man die Autonomen nicht einfach auf den besonders radikalen Kern eines Antikriegsprotests oder eines Anti-Nazi-Aufmarschs reduzieren, der sich das schwarze Outfit angelegt hat, um sich von anderen DemonstrantInnen abzugrenzen. Als bloßer jugendkultureller Trend hätte die Autonomenkultur längst ausgedient.

Vielmehr hat die Bewegung all jenen politisch Engagierten eine Heimat geboten, die ihre radikale Kritik an der Gesellschaft nicht nur in abstrakten Pamphleten niederschreiben, sondern konkret leben wollten.

Zugleich gaben sich die Autonomen alle Mühe, nicht als Weltverbesserer abgestempelt zu werden. Bloß nicht mit erhobenem Zeigefinger andere belehren, lautete ihr Motto. Auf viele relevante Fragen der Gesellschaft wollten sie gar keine fertigen Antworten liefern. Im Gegensatz zu den K-Gruppen der 70er-Jahre war den Autonomen ein geschlossenes Weltbild per se suspekt. Dies widerspräche dem Anspruch nach Unabhängigkeit und eben nach Autonomie. Den Aktiven genügte es, vieles infrage zu stellen, um der Wahrheit näher zu kommen. Das machte sie unkompliziert und sicherte ihren Bestand.

Die Autonomen gibt es auch heute noch – nicht nur in Form von schwarzen Blöcken auf diversen Antifa-Demos oder bei globalisierungskritischen Gipfelevents. Trotzdem hat sich vieles verändert. Längst haben sie sich dem Zeitgeist der weltweiten außerparlamentarischen Bewegungen angeschlossen: Theoretisch geht es mit allen. Ihre Berührungsängste zu vielen Gruppierungen der Gesellschaft haben sie abgelegt. Auf einmal wird auch nicht mehr nur spöttisch über „Realpolitik“ gesprochen. Der vermeintliche Widerspruch zwischen Reformismus und Revolution scheint in internen Debatten als rhetorische Allzweckwaffe ausgedient zu haben. Streitereien unterschiedlicher Strömungen und innerlinke Auseinandersetzungen werden deutlich entspannter ausgetragen als jemals zuvor.

Vielleicht sind das tatsächlich Anzeichen für das in den vergangenen zehn Jahren so häufig beschworene Ende der autonomen Bewegung. An Attraktivität hat sie dennoch kaum eingebüßt, zumindest außerhalb Deutschlands: Als „Black Block“ findet sie andernorts Nachahmer – etwa bei streikenden Hafenarbeitern und protestierenden StudentInnen im fernen Südkorea.