„Es soll kein Kanon sein“

LITERATUR Mit Boccaccios „Dekameron“ wird eine „Grundschrift der europäischen Kultur“ vorgestellt

ist Publizist und war von 1973 bis 2006 Leiter der Abteilung „Kulturelles Wort“ beim NDR.

taz: Herr Kesting, sind Ihre „Grundschriften der europäischen Kultur“ jetzt noch ein Kanon, der mir sagt, was ich gelesen haben soll?

Hanjo Kesting: Das Buch ist aus einer Vortragsreihe hervorgegangen. Es soll kein Kanon sein, und es ist auch nicht so, dass damit jetzt alle Grundschriften erwähnt wären. Aber es sind 27 Bücher, die in der Geschichte der europäischen Kultur bis heute eine bedeutende Rolle spielen.

Was ist eine Grundschrift?

Ich definiere sie als eine Schrift, die seit ihrer Entstehung in immer neuen Verzweigungen die Kulturgeschichte durchzieht und bis heute Relevanz behalten hat. Dante etwa hat in der „Göttlichen Komödie“ – um 1300 geschrieben – den antiken Dichter Vergil als Begleiter auf dem Weg durch die Hölle. Von Vergil stammt die „Aeneis“, die selbst eine Grundschrift ist. Er wiederum hat Homer als Vorbild. So wirken bestimmte Texte immer weiter und geben neue Anstöße.

Hat jüngere Literatur da überhaupt eine Chance?

Das späteste Buch, das ich aufgenommen habe, ist ein Werk von Nietzsche, der 1900 starb. Ich habe im 20. Jahrhundert kein einziges Buch gefunden, das wie Dante, Vergil, Homer oder Shakespeare noch eine Grundschrift sein könnte.

Liegt das an der Qualität oder am Zeitpunkt des Erscheinens?

Es gibt im 20. Jahrhundert viele literarisch bedeutende Werke. Aber „Ulysses“ von James Joyce etwa ist ja eine Variante von Homers „Odysee“. Und Thomas Mann nimmt mit „Dr. Faustus“ einen mittelalterlichen Stoff auf, bei „Joseph und seine Brüder“ greift er auf die Bibel zurück.

Ist so eine Auswahl nicht immer etwas subjektiv?

Natürlich.

Was für Kriterien haben Sie da?

Ich mache es teilweise am literarischen Rang, teilweise an der Wirkungsgeschichte fest.

Trotzdem fehlt Goethes „Faust“, in ihrem Buch, sein „Reineke Fuchs“ aber nicht.

Der „Faust“ ist sicher der zentrale Text von Goethe, aber es ist mir nicht gelungen, dieses zweiteilige Werk dramaturgisch in den Rahmen eines zweistündigen Abends zu bringen. Deswegen bin ich auf „Reineke Fuchs“ ausgewichen, um damit die ganze Tradition der europäischen Tierfabel abzubilden und Goethe dennoch vertreten zu sehen.

Kann man so auch junge Menschen ansprechen?

Sicher! Wenn sie „Titanic“ im Kino sehen, ist das im Grunde eine Wiederauflage des Turmbaus zu Babel. Das ist als tiefere Spur in jedem Menschen gespeichert.

INTERVIEW: JAN ZIER

19 Uhr, Zentralbibliothek Hanjo Kesting: Grundschriften der europäischen Kultur, Erfahren, woher wir kommen, Wallstein-Verlag, 1.194 Seiten, 34,90 Euro