Rege Wahlbeteiligung im Nordirak

Bei den Parlamentswahlen gehen mehr Menschen an die Urnen als im Januar oder bei dem Verfassungsreferendum im Oktober. Auch die Sunniten beteiligen sich rege. In den kurdischen Vierteln herrscht eine regelrechte Volksfeststimmung

AUS KIRKUK INGA ROGG

Mit zwei Wahlhelfern schiebt sich Bay Iskerim Mohammed in die Menschenmenge vor dem Klassenzimmer. „Schluss mit dem Gedrängel“, brüllt er die Männer und Frauen an. „Stellt euch endlich in Reih und Glied an.“ Es hilft nichts, die Anweisungen Anweisungen des 50-jährigen Schuldirektors verhallen beinahe ungehört. Kaum wendet er sich von der Tür ab, bricht sich der Andrang erneut Bahn. Nach vier Anläufen ist der kleine, kräftige Mann endlich am Ziel – vor dem Klassenzimmer hat sich eine ordentliche Schlange gebildet. Zeit zum Ausruhen hat der Wahlleiter aber nicht. Von allen Seiten wird er mit Anfragen und Beschwerden bedrängt. Mal fehlt ein Name, mal beklagt sich ein Parteikader über das Verhalten eines Konkurrenten.

Bis zum Mittag hat bereits knapp die Hälfte der Wähler, die an der Grundschule im Stadtteil Askeri in der irakischen Stadt Kirkuk registriert sind, ihre Stimme abgegeben. Beim Verfassungsreferendum vor zwei Monaten waren es insgesamt so viele wie jetzt, und bei der Wahl im Januar blieb das Wahllokal weitgehend verweist. In dem Quartier im Süden von Kirkuk wohnen vor allem arabische Sunniten. Viele von ihnen nehmen zum ersten Mal an einer demokratischen Wahl teil.

Im schicken Anzug und Hemd ist Turki Jerjiz Taha zur Wahl gekommen. „Ich möchte mich am Aufbau des neuen Irak beteiligen“, sagt der Öl- und Energietechniker. Es klingt ein wenig wie in einem der vielen Werbeclips. Aber Taha sagt es mit einer Inbrunst, die jeden Zweifel zerstreut. An den letzten Wahlgängen habe er sich nicht beteiligt, weil er kein Vertrauen in die bisherigen Regierungen gehabt habe. Diesmal bekommt das Zweistromland eine gute Regierung, ist sich Taha sicher. Vor allem wünscht er sich Frieden und Sicherheit. „Dazu brauchen wir einen starken Führer“, sagt der 25-jährige Sunnit. „Einen wie Allawi.“ Der frühere Regierungschef ist unter den Sunniten im Askeri-Viertel erstaunlich populär, obwohl er während seiner Amtszeit grünes Licht für den Einsatz gegen die Rebellenhochburg Falludscha gegeben hat.

Anders als Taha hat Wissam Ahmed nicht Allawi gewählt, sondern die Irakische Tawafuk-Front um die Islamische Partei. Unter den vielen Listen der Sunniten gilt das Bündnis als eines der aussichtsreicheren. Wenn man den Regierungschef direkt wählen könnte, wäre Allawi auch seine Stimme sicher, sagt Ahmed. Für beide ist er der neue starke Mann, den sie sich für den Irak wünschen. Neben Frieden hoffen die beiden Sunniten, die rund 30 Jahre Altersunterschied trennt, vor allem auf den baldigen Abzug der Amerikaner.

Plötzlich bricht auf dem Flur ein Tumult aus. Eine kurdische Wahlbeobachterin beschwert sich, dass dutzende Kurden nicht zur Wahl zugelassen wurden. „Ich bin hier registriert“, beklagt sich einer. Dabei wedelt er mit dem Ausweis der kurdischen Studentenvereinigung. Er stamme aus einer Familie, die aus Kirkuk vertrieben worden sei, sagt Karwan Osman. „Sie wollen nicht, dass wir wählen.“ Ein Blick in seinen Ausweis zeigt jedoch, dass er aus Erbil stammt und damit nicht zur Wahl in Kirkuk zugelassen wurde.

In Kirkuk kämpfen 47 Listen um die neun Mandate, die der Provinz im künftigen Repräsentantenhaus zustehen. Dass die Kurdistan-Allianz den Löwenanteil der Stimmen erringen wird, gilt als sicher. Da in den nächsten zwei Jahren der Status von Kirkuk geklärt werden soll, zählt freilich jede Stimme. Obwohl diesmal in allen Vierteln kontinuierliche Ströme von Wählern zu sehen sind, herrscht nirgendwo eine so große Euphorie wie in den kurdischen Quartieren. Wie schon beim Wahlgang im Januar herrscht Volksfeststimmung. Obwohl der Wahlgang hier weitgehend geordnet abläuft, bleiben Unregelmäßigkeiten nicht aus. Der ein oder andere versucht sich ein zweites Wahlrecht zu erschleichen, indem er die Tinte schnell vom Finger wischt.

Gelernt aus den bisherigen Wahlgängen haben freilich nicht nur die Wähler und Wahlhelfer, sondern auch die Beobachter. In der Kindi-Schule, wo viele Turkmenen und Christen wohnen, kommt es zum Eklat, als Medienleute der Polizei einen prominenten turkmenischen Politiker filmen wollen, der als Symbol der Turkmenischen Front einen blauen Schal um den Hals trägt. Kurden protestieren dagegen. Nach einer hitzigen Diskussion mit dem Schulleiter ziehen der Politiker und sein Gefolge ab. Für Streit um die Auszählung der Stimmen von Kirkuk ist gesorgt.