„In Brüssel lässt sich was reißen“

Seit mittlerweile anderthalb Jahren sitzt Michael Cramer für die Grünen im Europäischen Parlament. Aus dem ehemaligen Verkehrsexperten im Berliner Abgeordnetenhaus und Fahrradguru ist ein Vielflieger geworden. Für ihn war die Berliner Politbühne Vorspiel für Brüssel. Was macht er eigentlich dort?

VON ROLF LAUTENSCHLÄGER

Es ist schon spät am Nachmittag. Im Ausschuss für Verkehr des Europa-Parlaments in Brüssel beginnt für die Abgeordneten der Kampf gegen die Schläfrigkeit. Brav diskutieren sie einen Bericht zur Lage des „ÖPNV – Dienste auf der Schiene und Straße“. Sie wägen das Monopol örtlicher und nationaler Schienenträger gegenüber privaten Anbietern ab. Eine nette Balance.

Nicht ganz im Takt schaukelt Michael Cramer in seinem Abgeordnetensessel, als wolle er sich und das Gremium auf eine andere Betriebstemperatur bringen. Was just auch geschieht: „Herr Vorsitzender“, mischt sich Cramer ein, „der Vertreter aus der Kommission beantwortet unsere Fragen gar nicht“, sondern flüchte sich in oberflächliche Einlassungen zum Thema. Das sei ungeheuerlich. Cramer will Antworten, keine Ausreden.

Für den Zwischenruf kriegt er später einen kleinen Rüffel vom Präsidium. Aus Berliner Abgeordnetenhaus-Zeiten ist er das Austeilen und Einstecken gewohnt. Das gehört zum Geschäft. Später an diesem Nachmittag hört der grüne EU-Abgeordnete Cramer vom Vorsitzenden, er sei wohl „im Stierkampf geübt. Taucht ein Tuch vor ihm auf, reagiert er prompt.“ Ein Kompliment für seine Kompetenz.

Michael Cramer passt perfekt in den Brüsseler Politikbetrieb. Das ist keineswegs als Scherz gemeint. Der Mann ist wie die Mehrheit der 732 Mitglieder des Europäischen Parlaments „50 plus“. Sein Haar ist nicht mehr ganz so voll, was einerseits auf Erfahrung, andererseits auf längere Aufenthalte auf heimischen Abgeordnetenbänken schließen lässt. Und als Jeans- und Bartträger mit spitzbübischem Lächeln könnte er wie viele seiner männlichen Kollegen als TV-Moderator für Outdoor-Specials durchgehen. Die EU-Parlamentarier gelten als ein wenig eigen, meinte einer, der es wissen muss. Von Jean-Claude Juncker, Ministerpräsident von Luxemburg und turnusmäßiger EU-Ratschef, stammt die Charakterisierung, dass sich in Brüssel eine Gesellschaft von Sonderlingen versammelt. Bis heute würden die meisten von uns ja „gar nicht begreifen, was da beschlossen wird“. Pure EU-Legendenbildung?

Cramer, seit anderthalb Jahren Europapolitiker in Brüssel sowie in Straßburg und dort für die 42 Grünen/FEA-Abgeordneten Sprecher im Ausschuss für Verkehr und den Fremdenverkehr (Tran), mangelt es in einem wesentlichen Punkt am typischen EU-Image: Er ist nicht von der Spree ins Brüssel der Politik-Pensionäre gewechselt, um seine Altersbezüge aufzupolieren, sondern „um zu arbeiten, zu überzeugen, es zu drehen. Wie ein Lehrer. War ich ja schließlich mal“, sagt er. Mit im Gepäck: der Lehrstoff zur Vereinigung zweier Stadthälften. „Berlin, das ist meine Grundlage für Brüssel.“

Die Grünen residieren im achten Stock des riesigen gläsernen Parlamentsriegels, der sich über das östliche Brüssel schiebt. Cramer hat zwei Büroräume und eine Referentin, andere Grünen-Politiker, etwa Daniel Cohn-Bendit, haben mehr. Es sieht bei Cramer ein wenig nach Vertrauenslehrer-Zimmer aus. Draußen vor der Tür hängt ein Plakat seines Projekts „Iron Curtain Trail“, ein Radweg entlang der einstigen europäischen Block-Grenzen von Finnland bis zum Schwarzen Meer. Es ist die Mega-Variante seines Berliner „Mauerradwegs“: Geschichte, Landschaft und Kultur der Schnittstelle Europas touristisch erlebbar zu machen und ihrer zu gedenken.

Drinnen im Büro gibt sich die Cramer-Welt auch sympathisch unaufgeräumt: eine kleine Liege, schwarze Schuhe für die abendlichen Events davor, ein Schrank, ein voller Schreibtisch. Es ist eng, der Raum müsste größer sein – schon aus geografischen Gründen. Geht es doch nicht mehr um Berliner Busspuren, Umweltkarten für die BVG, die Trambahn und Fahrradwege in der Hauptstadt oder die Schließung des Flughafens Tempelhof.

Die Arbeit des Europaabgeordneten Cramer konzentriert sich jetzt darauf, die Schienenverkehrswege besser zu vernetzen und zu harmonisieren – insbesondere in die osteuropäischen Staaten. Er arbeitet gegen die Entschädigungsregelung der Frachtverkehre, für mehr Fahrgastrechte, für die ökologische Wende in der europäischen Verkehrspolitik et cetera – dazu ein wenig noch Lehrter Zentralbahnhof, „dessen Planung mich noch immer tierisch ärgert“.

Es sind die großen Themen verkehrspolitischer Zukunftsmusik, auf deren Klaviatur der Mann im Hemd, aber ohne Krawatte jetzt spielt. Die Papiere türmen sich, die Termine auch, Anträge müssen formuliert werden. Cramer lotet Bündnisse aus mit den anderen Fraktionen. Mit Erfolg. Gegen die Berlusconi-Brücke nach Sizilien sind Mehrheiten zusammengekommen, ebenfalls dafür, dass in ICEs wie in anderen europäischen Schnellzügen Fahrräder transportiert werden dürfen. Der deutsche Bahnchef hatte dagegen gewettet. „Dass das durchkam, hat Mehdorn zwei Kisten Schampus an mich gekostet.“

„Man kann in Brüssel was reißen“, sagt er. Er ist offizieller Berichterstatter für das Eisenbahnpilotprojekt Rotterdam–Genua, wo es um die Harmonisierung der nationalen Bahnstrukturen geht – von den Signalanlagen angefangen bis zum internationalen Zugführerschein. Bis 2015 ist das Projekt angelegt. Es müssen dicke Bretter gebohrt werden, doch „wenn man überzeugend ist, bilden die Fraktionsgrenzen weniger ein Hindernis. Das EU-Parlament besteht ja nicht aus Regierung und Opposition. Hier herrscht die Kraft der Überzeugung.“

Cramers Credo lautet: „Es geht um die Überwindung der europäischen Spaltung durch Mobilität und grenzüberschreitende Begegnung, wie es Berlin vorgemacht hat. Es geht um ein einheitliches europäisches Schienennetz von Lissabon nach Tallinn, von London nach Athen. Europa ist möglich. Der Verkehr ist dafür das Mittel zum Zweck.“ Früher haben Diktatoren solche Pläne – von Lissabon bis Tallinn – entwickelt. Heute können das grüne Demokraten.

Ganz oben im Europaparlament, unter einer Glaskuppel und mit einem traumhaften Blick hinunter auf Brüssel, gibt es eine Promi-Kantine. Die Kommissare essen hier, auch Abgeordnete. Auch Michael Cramer geht manchmal dorthin essen, wenn er Zeit hat. Auf dem Weg hinauf in die Kapsel des „Raumschiffs Europa“ trifft er Kollegen. Man schätzt sich. Cohn-Bendit bewundert er, umgekehrt hat sich der Verkehrsexperte Respekt verschafft.

Der Rollenwechsel von Berlin nach Brüssel sei kein Unfall, sagt Cramer. Im Frühjahr 2004, als die Grünen ihre Kandidaten für die Europawahl im Juni aufstellten, „haben alle zu mir geguckt und dann gesagt: Du musst es machen.“ Nicht er habe es darauf angelegt, nach „15 Jahren Abgeordnetenhaus und der Leidenschaft für grüne Berliner Verkehrspolitik“ wegzugehen. Es sei ein Abschied der Vernunft gewesen, keiner im Zorn oder mit Torschlusspanik.

Was nur halb stimmt. Es ist kein Geheimnis, dass Cramer nach dem Abgang von Wolfgang Wieland und Renate Künast als eines der letzten Alpha-Tiere aus alten AL-Zeiten im Berliner Parlament verblieben war. Die junge grüne Generation drängte nach, Cramer bewarb sich für den Deutschen Bundestag, suchte neue Themen in der Kultur- und Europapolitik. Dass er es nach Brüssel und Straßburg geschafft hat, bezeichnet er als „großartig“ und – natürlich – als Arbeitsauftrag. Was kann Europa Besseres passieren, „als von den Erfahrungen Berlins zu profitieren“, sagt Cramer. „Es gibt viel zu tun“, allein die 42 unausgegorenen Projekte für Transeuropäische Verkehrsnetze aus dem Jahr 2003 seien es wert, nach Brüssel gegangen zu sein.

Wirklich? Von morgens früh bis manchmal nachts um elf, halb zwölf macht Cramer in Brüssel seinen Job. Er hat sich hier eine kleine Wohnung mit „Kreuzberger Hinterhof-Atmo“ gemietet, „die Küche aber noch nie benutzt“. Einmal im Monat ist er für ein paar Tage in Straßburg, schläft dort im Hotel. Die Wochenenden verbringt er meist in Berlin. Es ist zusätzlicher Stress, wenn Reisen ins Ausland anstehen. „Ich bin jetzt Vielflieger“, sagt Cramer, der Berliner Fahrrad-Guru. Und man nimmt es ihm ab, dass er das bedauert. Ebenso, dass er in Brüssel nicht mehr Rad fährt, weil die Wohnung nur ein paar Minuten um die Ecke liegt und er „lieber zu Fuß“ ins EU-Parlament geht. Er vermisst die täglichen Radtouren „full speed“ von Halensee ins Abgeordnetenhaus.

Ja, ja, Berlin. Jeden Morgen ist Berlin in Brüssel fern und doch so nah. Michaele Schreyer, einstige Finanz-Kommissarin der EU und wie Cramer Berliner Grüne, hatte es – nach jahrelanger Anstrengung – in ihren letzten Arbeitstagen 2004 geschafft, in Brüssel einen Platz für ein Mauersegment zu ergattern. Die Mauer steht im Leopold-Park gleich hinter dem EU-Bau. Jeden Morgen geht Cramer in der EU-Cafeteria im Erdgeschoss frühstücken. Sein Blick fällt dabei auf den Mauerrest. „Dann bin ich mit Berlin verbunden.“