Nachbereitung 1. Mai: Katerstimmung in Kreuzberg
Die Bezirksbürgermeisterin Herrmann stellt die Riesensause wegen Sicherheitsbedenken infrage – und erntet Kritik.
Polizei und Myfest-Organisatoren freuten sich am Wochenende über einen weitgehend gewaltfreien 1. Mai. Doch nicht alle waren glücklich: Wegen Sicherheitsbedenken stellt die Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg das Myfest infrage. „So wie es jetzt ist, kann es nicht weitergehen“, sagte Monika Herrmann (Grüne) am Sonntag zur taz. „Es ist einfach zu gefährlich.“
Tatsächlich wird der 1. Mai in Kreuzberg immer mehr zur Riesensause. Zehntausende tranken im Kiez rund um die Oranienstraße Caipirinha in der Sonne, aßen Gegrilltes oder tanzten. Weil so viele Menschen mitfeiern wollten, schloss die Polizei manche Zugänge zum Myfest schon am frühen Nachmittag. Die Party schwappte in die angrenzenden Viertel. Auf der Skalitzer Straße kam der Verkehr zum Erliegen. Im Görlitzer Park saßen die Feiernden dicht gedrängt.
Das Sicherheitskonzept des Myfests sei für 35.000 Besucher ausgelegt, sagte Herrmann. Am Freitag hätten sich dort zeitweise über 40.000 Menschen aufgehalten. „Nicht auszumalen, was in dem Gedränge passiert, wenn es wie in Duisburg zu einer Massenpanik kommt.“ Bei der Loveparade 2010 starben dort 21 Menschen. Auf dem Myfest könnte ein Feuer, das von einem der Grills auf den Nachbarstand übergreife, ausreichen, um einen Fluchtreflex auszulösen, so Herrmann. „Wenn so etwas passiert, sagen hinterher alle: Das habt ihr doch gewusst.“
Man müsse deshalb entweder das Festgebiet ausweiten oder die Anzahl der Besucher durch Eingangskontrollen radikal beschränken, forderte Herrmann. Eine Verlagerung der Veranstaltung sieht sie skeptisch. „Dann wäre es nicht mehr das Myfest“, so die Bürgermeisterin.
Selbst eine Absage des Myfests schließt Herrmann nicht aus. Das wäre ein schmerzhafter Schritt, von dem sie hoffe, dass er nicht vonnöten sei, sagte sie. „Oberste Prämisse ist die Sicherheit. Ich wünsche mir, das wir eine Lösung finden, aber ich kenne noch keine.“ Sie wolle mit dem Bezirksamt ein Konzept erarbeiten, das auch in der Bezirksverordnetenversammlung zur Diskussion gestellt werde, kündigte Herrmann an.
„Das ist ein Witz“, sagte am Sonntag Halis Sönmez, einer der Organisatoren des Myfests. Er wohnt am Heinrichplatz und hatte das Myfest 2003 mit aus der Traufe gehoben, um der ritualisierten Randale rund um die Oranienstraße etwas entgegenzusetzen. Das Argument der Sicherheit überzeugt ihn nicht. „Als früher Steine und Flaschen flogen, soll das sicherer gewesen sein? Möchte Frau Herrmann, dass Kreuzberg wieder brennt?“ fragte er.
Sönmez zufolge hatte der Myfest-Vorstand wegen des großen Besucherandrangs in den vergangenen Jahren schon mehrfach vorgeschlagen, das Festgebiet auf den Wrangelkiez, den Görlitzer Park und die Wiener Straße auszudehnen. „Aber dann hätten wir mehr Geld für Security gebraucht, das haben wir nicht bekommen.“ Schon jetzt gehe die Hälfte der vom Land finanzierten 170.000 Euro für die Sicherheit drauf. Auch Herrmann bestätigte, dass mehrfach über eine Ausweitung diskutiert worden sei. Die Polizei habe das aber aus sicherheitstechnischen Erwägungen abgelehnt.
Kritik am Myfest kommt derweil auch von anderer Seite. „Für mich ist das eine der widerlichsten Veranstaltungen, die es in Berlin gibt“, sagte Michael Prütz vom Bündnis der Revolutionären 1.-Mai-Demo am Sonntag. Am Anfang sei das Myfest zumindest als politisch-kulturelles Fest gedacht gewesen. „Aber mittlerweile ist es ist zu einer reinen Saufmeile verkommen.“ Gerade in diesem Jahr habe das Myfest auch ganz praktisch die Durchführung der 18-Uhr-Demo erschwert. „Es gibt Leute, die sind um 17 Uhr am Mariannenplatz losgelaufen und haben es trotzdem nicht bis zum Auftaktort am Spreewaldplatz geschafft, weil die Straßen so verstopft waren“, berichtete Prütz. Wenn es nach ihm ginge, würde das Myfest überhaupt nicht mehr stattfinden. „Gelegenheiten, sich volllaufen zu lassen, gibt es in Berlin genug.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Felix Banaszak über das Linkssein
„Für solche plumpen Spiele fehlt mir die Langeweile“
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
Geschlechtsidentität im Gesetz
Esoterische Vorstellung
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod