Orhan Pamuk im Gericht geschlagen

Unter chaotischen Umständen hat der Prozess gegen den türkischen Schriftsteller Orhan Pamuk wegen dessen Äußerungen zum Völkermord an den Armeniern begonnen – und wurde gleich wieder vertagt. Jetzt muss die Regierung entscheiden

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

Unter skandalösen Begleitumständen ist gestern der Prozess gegen den bekanntesten türkischen Schriftsteller, Orhan Pamuk, aufgenommen und gleich wieder ausgesetzt worden. Orhan Pamuk, der wegen einer Interviewäußerung zur Armenierfrage angeklagt werden soll, wurde sowohl bei dem Betreten als auch beim Verlassen des Gerichts von nationalistischen Demonstranten angegriffen, ohne dass die Polizei dies wirksam zu unterbinden versuchte. Dabei wurde ihm vor Beginn der Verhandlung im Flur des Gerichts von einer fanatischen Demonstrantin ein Aktendossier auf den Kopf geschlagen, nach der Verhandlung griff eine Gruppe der faschistischen Grauen Wölfe das Auto an, mit dem er das Gericht verlassen wollte. Die zahlreich vertretene Polizei schaut dem Treiben entweder zu oder griff wesentlich zu spät ein.

Vor und im Bezirksgericht in Sisli herrschte bereits Stunden vor Verhandlungsbeginn das schiere Chaos. Medienvertreter aus aller Welt, Delegationen des Europaparlaments und des Europarates, internationale PEN-Vertreter, Freunde von Orhan Pamuk und organisierte Nationalisten drängten sich in den Gängen des Gerichts und versuchten zumeist vergeblich, in dem lediglich 40 Personen fassenden Saal einen Platz zu ergattern.

Am Abend zuvor war im Rahmen einer Pressekonferenz des türkischen PEN noch darüber spekuliert worden, dass der Prozess vielleicht gar nicht stattfinden wird. Das Gericht hatte im Vorfeld beschlossen, dass Pamuk nicht nach dem reformierten, aber erst im Juni in Kraft getretenen Strafgesetz angeklagt werden könne, da zum Zeitpunkt des Interviews im Februar noch das alte Gesetz galt. Nach diesem Gesetz muss allerdings das Justizministerium einem solchen Prozess zustimmen. Da bis gestern aber noch keine Entscheidung des Ministers vorlag, setzte das Gericht die Verhandlung nun bis zum 7. Februar aus.

Damit liegt der Ball jetzt eindeutig bei der Regierung von Ministerpräsident Tayyip Erdogan. Gegenüber der taz meinte der grüne Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit, der als Beobachter aus Brüssel angereist war: „Erdogan muss dafür sorgen, dass dieser absurde Prozess eingestellt wird, und vor allem eine neue Vorlage zum Strafrecht ins Parlament bringen, die zukünftig Anklagen wegen Meinungsäußerungen unmöglich macht.“

Orhan Pamuk war angeklagt worden, weil er in einem Interview mit dem Zürcher Tagesanzeiger gesagt hatte, in der Türkei seien eine Million Armenier und 30.000 Kurden umgebracht worden. Er hatte dadurch eine regelrechte Hetzkampagne von Nationalisten und Faschisten gegen sich ausgelöst.