Eine Person im Kindergartenalter

EINDEUTIG AMERIKA Ein poetischer Blick auf eine kapitalistische Welt: In seinem Roman „Die Leute, die sie vorübergehen sahen“ nutzt der Erzähler Scott Bradfield die Perspektive eines Kindes

Der Entführer will das Kind einfach möglichst fern von den Seuchen des Mainstreams erziehen

VON CATARINA VON WEDEMEYER

Am Anfang ist Sal noch davon überzeugt, sie brauche unbedingt ihren Hasen und ihr Schokoladenei. Daraufhin erklärt ihr der Mann, der eigentlich nur den Boiler der Familie hätte reparieren sollen und stattdessen die dreijährige Tochter kidnappt, die Welt: „Es gibt vieles, von dem du glaubst, du brauchst es. Und vieles, das du überhaupt nicht brauchst.“ Eingewickelt in eine löchrige Decke mit Ölflecken lauscht Sal ihrem neuen selbsterklärten Erzieher und dessen anarchistischen Überzeugungen.

Die Ausgangssituation ist unglaubwürdig, Scott Bradfield schafft es aber, das Kind in seiner Entführungsgeschichte zu einem so starken Charakter aufzubauen, dass man sich im Laufe der Lektüre nicht mehr darum schert, ob das nun so hätte ablaufen können oder nicht. Ob eine Person im Kindergartenalter zu Einsichten über „Umlaufgeschwindigkeiten und Synergien“ imstande wäre oder nicht. Überhaupt geht es eben nicht nur um Sal oder um die Leute, die sie vorübergehen sahen. Es geht um alles, was sie lernt, während sie an den Leuten vorübergeht.

Und das ist mehr als street wisdom oder platte Aphorismerei, denn der Roman wird zunehmend philosophisch. Der Mann, den Sal „Daddy“ nennen soll, zeigt sich als Idealist. Seine Motive sind weder Perversion noch Pädophilie, er will das Kind einfach möglichst fern von den Seuchen des Mainstreams erziehen.

Und Sal ist völlig einverstanden. Als „Daddy“ verschwindet, zieht sie bei einer Mrs. Anderson ein. Sobald sie genug von der lockengewickelten Mrs. Anderson und deren Weltbild hat, das hauptsächlich in der Erkenntnis besteht, dass Männer Angst vor der Liebe haben, geht sie mit dem Mann mit dem Lastwagen mit. Dann begegnet sie nacheinander dem Mann im Waschsalon, dem Unglücklichen, einem Tankstellenverkäufer, der das immer noch höchstens fünfjährige Mädchen heiraten will, seiner Großmutter und einer Mrs. Mayhew.

Ein Kind als Erlöser

Sal hat Glück. Der Tankstellenverkäufer will seine vermeintliche Verlobte zwar an merkwürdigen Stellen anfassen, hört aber sofort auf, wenn sie Stop sagt. Auch hier balanciert die Erzählung an der Naivität vorbei und bleibt ernst und ruhig, wie das Kind selbst. Komisch wird es, wenn Mrs. Mayhew erklärt, Sal sei die messianische Erscheinung, auf welche die Shaper-Sekte seit Urzeiten warte, sie sei der „Rächer, der die Sünder zerschmettert“.

Sal antwortet jeweils so ehrlich, wie sie kann. Oder so, dass sie die Frager – Kinderfürsorge, Polizei, Psychologen – möglichst schnell wieder los ist. Sie erkennt, dass es am angenehmsten ist, mit Menschen zusammen zu sein, die keine Erwartungen an einen haben. Dass Kinder mit Pandas und Giraffen zugemüllt werden, weil Leute Tiere mögen, die nicht erwachsen werden. Dass der beste Teil am Leben der ist, bei dem keiner zusieht. Dass Körper immer um Körper kreisen. Dabei ist Amerika in Bradfields Roman immer noch Amerika, der Blick auf die kapitalistische Welt ändert sich jedoch.

Der Text zeigt, dass auch diese Welt poetisch sein kann. Sie lebt vor allem von den Bildern, die gerade nicht erklärt werden. Von Details, wie der Sonnenblume, die wie ein zerbrochener Drache aussieht, oder von den „wechselnden Absichten der Nacht“.

Hier geht es weniger um die Geschichte als um die Welt selbst. Nachdem Sal wieder eine Weile bei „Daddy“ wohnt, der ihr noch eine „kleine Schwester“ besorgt hat, zieht sie in die Wüste. Dort erlebt sie die Zeit als eine Folge von Dingen, die sie aushalten muss. Schmerzen, Sträucher, den Spott der Sterne.

Wenn sich diese Phasen der Erfahrung anschließend in das „Aushalten von Tieren“ gliedern, wird es zunehmend mystisch: „Ich bin nirgendwohin unterwegs, und das in meinem eigenen Tempo. Es geht nur um Ich und Nicht-Ich.“

Irgendwann trifft sie in einer Art Kleiner-Prinz-Motiv einen Schakal, der sie zurück zu den Menschen führt. Und dann kommt die Welt zurück zu ihr. Alle wollen das weise Mädchen aus der Wüste kennen lernen – wir sind eindeutig in Amerika. Schließlich lässt sich Sal sogar zu ihren biologischen Eltern zurückbringen, aber sie bleibt sie selbst.

Der einzige Teil, der wirklich unlogisch, konstruiert und überflüssig wirkt, ist der, in dem das Kind versucht, ein Buch über alle Menschen zu schreiben, die sie vorübergehen sahen, und das, ohne jemals schreiben gelernt zu haben. Nicht jeder Roman braucht eine Mise-en-abyme, wirklich nicht. Trotzdem ist es am Ende schön, dass das Buch über all diese Leute existiert. Denn nur so können die Gedanken von Sal auch am Leser vorübergehen.

■ Scott Bradfield: „Die Leute, die sie vorübergehen sahen“. Aus dem Englischen von Manfred Allié. Residenz Verlag, St. Pölten 2013, 208 Seiten, 21,90 Euro