: „Nach der Welle kam die Angst“
Gerd Püschel
Sri Lanka ist für den Verlagsvertreter Gerd Püschel zur zweiten Heimat geworden. Der 1961 geborene Berliner besucht seit zwölf Jahren die Insel, die von Reisenden von jeher als Paradies bezeichnet wurde. Doch am 26. Dezember des vergangenen Jahres ging dieses Paradies unter: 36.000 Menschen starben in den Fluten des Tsunami. Gerd Püschel war mitten in der ersten Welle, hat überlebt und gab nach seiner Rückkehr eine Anthologie mit Reiseberichten über Sri Lanka heraus. Dieses Jahr ist er wieder auf die Insel gefahren – mit einem Koffer voller Spenden. Kurz vor seiner Abreise sprach er mit der taz.
Interview UWE RADA
taz: Herr Püschel, Sie verbringen Weihnachten auch dieses Jahr wieder in Sri Lanka. Mit welchem Gefühl?
Gerd Püschel: Da ich in ständigem Kontakt mit den Leuten stehe, bin ich über das Leben dort einigermaßen informiert. Aber ich habe gemerkt: Je näher der Abflugtermin rückt, desto aufgeregter und unsicherer werde ich.
Warum?
Zum einen kommen die Erinnerungen an das hoch, was im vergangenen Jahr geschehen ist. Zum anderen weiß ich, dass dort auf privater Ebene noch nicht viel passiert ist. Die Menschen leben zum Teil noch in Notbehausungen. Das wird dieses Mal ein völlig anderer Aufenthalt.
Seit wie vielen Jahren bereisen Sie Sri Lanka?
Seit zwölf Jahren. Damals war ich in einer schwierigen persönlichen Situation und bin kurz entschlossen nach Sri Lanka aufgebrochen. Der Aufenthalt dauerte zwar nur zwei Wochen, aber ich habe dort ein paar Menschen kennen gelernt, die mir sehr sympathisch waren. Seitdem komme ich immer wieder. Ich habe mich in das Land und die wohltuende Art der Menschen verliebt.
Sie sind, wenn man das so sagen darf, ein Überlebender des Tsunami vom 26. Dezember 2004. Wie hat denn der Tag für Sie begonnen?
Der Tag hat mit einem nachweihnachtlichen, langen Frühstück am Meer begonnen. Wir saßen auf der Terrasse, der Himmel war strahlend blau, das Meer spiegelglatt. Es ging ein leichter Wind. Wir haben noch einmal den Weihnachtstag Revue passieren lassen. Anschließend wollten wir in den Süden fahren und dort einen Maler besuchen, mit dem wir befreundet sind. Wir wollten uns seine modernen Wandmalereien anschauen.
Wir, das heißt Sie und Ihre Bekannten aus Sri Lanka?
Ich, meine 16-jährige Nichte, die im vergangenen Jahr zum ersten Mal dabei war, und mein Freund Cyril. Wir sind dann zum Haus von Cyrils Schwiegereltern gegangen und wollten uns gerade von der Familie verabschieden, als die ersten Leute schreiend an uns vorbeigerannt sind. Über die Steinmauern am Strand sprang das erste Wasser – dunkles, schwarzes Wasser in großen Fladen. Das sah aus wie in einem computeranimierten amerikanischen Katastrophenfilm. Wir haben in diesem Augenblick überhaupt nicht ans Meer gedacht, weil das Wasser diese schwarze Farbe hatte und weil 800 Meter vor dem Dorf der drittgrößte Fluss des Landes ins Meer fließt. Wir dachten, es sei ein Dammbruch, irgendwo oben in den Bergen.
Wer hat als Erster reagiert?
Cyril hat es gesehen, weil er mit dem Gesicht zum Meer stand. Da kam das Wasser schon die Wege runtergelaufen und stieg sehr schnell an. Wobei man sagen muss: Das erste Wasser war keine Welle, die alles weggespült hat, es war ein schnell steigendes Hochwasser.
Mit dem allerlei herangespült wurde.
Müll, Baumstämme, Fahrräder, leere Schnapsflaschen, Schränke, Schüsseln – alles, was nicht niet- und nagelfest war. Die Kinder sind an uns hochgeklettert. Wir haben sie dann gemeinsam auf ein Steinhaus gebracht, viele Häuser sind in Sri Lanka noch aus Lehm gebaut. Dann haben wir die Frauen hochgebracht und sind zum Schluss selbst hoch.
Was war Ihr erster Gedanke, als Sie sahen, wie schnell das Wasser stieg? Haben Sie um Ihr Leben gefürchtet?
Nein. Ich hatte gar nicht so viel Zeit. Hinterher habe ich versucht zu rekapitulieren, welche Gefühle ich hatte. Ich glaube, ich hatte überhaupt keine Gefühle. Ich habe in diesem Augenblick ganz mechanisch und praktisch gedacht und gehandelt. Das haben alle getan, da war ich keine Ausnahme. Die Angst kam erst, als die erste Welle weg war.
Kein Gefühl der Erleichterung?
Doch, auch. Und beim Herumschauen das Gefühl: Gott sei Dank, von unserer Familie ist niemand weggespült worden. Und niemand tot.
Der Gedanke an die zweite Welle …
… den gab es nicht. Es hat keiner an einen Tsunami gedacht. Nur daran: Es sieht schlimm aus, aber wir leben.
Wie lange dauerte es, bis die zweite Welle kam?
Zehn bis fünfzehn Minuten. Als wir von den Dächern heruntergeklettert waren, kam ein Freund und sagte: Hey, das müsst ihr sehen, da draußen ist ein 200 Meter breiter Strand.
Der Moment, der später immer wieder beschrieben wurde, der Moment, in dem Tiere ins Landesinnere gerannt sein sollen. Wie haben Sie die Nachricht von dem ungewöhnlichen Strand aufgenommen?
Als wir schon in den Bergen waren, habe ich die Leute immer wieder gefragt, ob sie gewusst hätten, dass da noch was kommt. Die Leute haben gesagt: Nein, aber das Meer ist immer gefährlich. Auch wenn es spiegelglatt ist, vor allem aber wenn etwas Unerklärliches passiert. 200 Meter Strand, den es noch nie gegeben hat, sind unerklärlich.
Dann haben Sie und Ihre Bekannten die Beine unter die Arme genommen.
Wir sind relativ diszipliniert in Richtung Kirche gegangen. Das war die Parole: Wir sammeln uns an der Kirche. Die liegt etwa 800 Meter im Landesinneren und etwa drei oder vier Meter über dem Meeresspiegel. Davor befindet sich zudem noch der etwa zwei Meter hohe Bahndamm, die Hauptstrecke von Colombo in den Süden. Wir waren etwa zwei oder drei Minuten auf dem Kirchplatz, als die zweite Welle mit einem unglaublichen Getöse kam und den Teil des Dorfes bis zum Bahndamm komplett ausgelöscht hat. Diese zweite Welle klang wie die Triebwerke eines Flugzeuges. Das war ein ohrenbetäubender Lärm. Dazu Splittern und Krachen. Entsetzensschreie. Diese Welle hat im Dorf 20 Menschenleben gefordert.
Wie haben Sie auf diese zweite Welle reagiert?
Wir sind noch zwei Kilometer weiter zu Freunden ins Landesinnere geflohen. Dort berichtete der Onkel des Hausbesitzers von einer dritten Welle, die das Dorf völlig zerstört habe. Er hat dann einen Lkw organisiert, mit dem wir auf die Hügel im Landesinneren gefahren sind.
Dort haben Sie sich dann in Sicherheit gefühlt.
Ja. Und dort konnten wir auch über die Palmen hinweg aufs Meer schauen. Das war still und glitzerte blau. Nichts, das auf eine Katastrophe hingedeutet hätte.
Zu Ausnahmesituationen wie diesen gehört ja auch, das man wissen will, was da eigentlich passiert. Wie war das bei Ihnen auf den Hügeln? Haben Sie einordnen können, was um Sie herum passiert ist.
Überhaupt nicht. Es gab keinen Strom, also auch kein Radio, die Handynetze waren zusammengebrochen. Das Einzige, was wir wussten, war, dass das Dorf vernichtet ist, dass es dort schlimm aussieht. Das haben wir von denen erfahren, die nach uns auf den Hügel gekommen sind. Wir wussten, dass es Tote gegeben hat, und wir wussten schon am Nachmittag, dass es nicht der Fluss war, der die Katastrophe ausgelöst hat, sondern das Meer. Der Buschfunk hat uns darüber informiert, dass nicht nur das Dorf betroffen war, sondern die ganze Küste. Vom ganzen Ausmaß, das der Tsunami in ganz Asien hatte, wussten wir allerdings nichts.
Wussten Sie zu diesem Zeitpunkt, dass es ein Tsunami ist?
Nein. Ich habe es nicht einmal erfahren, als ich am Abend dann doch meine Eltern in Deutschland erreichen konnte. Mein Vater sagte, dass es ein Riesenerdbeben gab und Überschwemmungen. Das Wort Tsunami hörten wir erst am nächsten Morgen, von singalesischen Bauern.
Was fühlen Sie heute, wenn Sie das Wort Tsunami hören?
Dann sind sofort die Erinnerungen wieder da. Dadurch, dass ich das Buch gemacht habe, und dadurch, dass ich meine eigene Geschichte sehr oft erzählen musste und auch aufgeschrieben habe, hat es aber den Schrecken verloren, den es am Anfang hatte. Obwohl es immer noch unbegreiflich ist. Allein in Sri Lanka gab es 36.000 Tote.
Wann haben Sie zum ersten Mal daran gedacht, ein Buch über Sri Lanka zu machen?
Die Idee, eine Anthologie mit Reiseberichten über Sri Lanka zu veröffentlichen, trage ich schon seit zwei Jahren mit mir herum. Mit dem Aufbau-Verlag hatte ich vereinbart, dass dieses kleine Buch im Herbst 2005 erscheinen soll, bevor die neue Reisesaison losgeht. Als ich zurückkam, hieß es, ich soll das Buch schnell machen, auch deshalb, weil der Gewinn als Spende nach Sri Lanka gehen sollte. Ans Ende des Buches habe ich dann meinen eigenen Reisebericht gestellt. Er hat den Titel „Ivaray“, was so viel heißt wie: aus, vorbei, vorüber.
Aus und vorüber ist es nun doch nicht. Wie viel Geld an Spenden bringen Sie mit nach Sri Lanka in Ihr Dorf?
Etwas mehr als 10.000 Euro, davon sind aber auch viele Privatspenden.
Wofür wird das Geld verwendet?
Das werden wir sehen, wenn ich wieder vor Ort bin. Die Aufbauarbeiten haben zum Teil erst jetzt begonnen, auch weil die Auszahlung der Gelder von der Regierung so lange dauerte.
Aufbau ist ein abstraktes Wort. Was heißt das konkret für das Dorf, in das Sie wieder fahren?
Von den 200 Familien, die ihre Häuser verloren haben, sind bislang erst 20 zurückgekehrt. Das Dorf ist noch in weiten Teilen verlassen und größtenteils eine Trümmerwüste. Wir werden Häuser bauen, hoffe ich.
Was hat es an Aufbauarbeiten denn überhaupt gegeben?
Zunächst war die komplette Infrastruktur wieder hergerichtet worden. Die Behörden und internationalen Hilfsorganisationen haben die große Hauptstraße in den Süden wiederaufgebaut, die Brücken, die Eisenbahn, die großen Hotels, damit die Touristen wieder ins Land kommen. Gerade an der Küste leben 60 Prozent der Menschen vom Tourismus.
Wenn Sie jetzt wieder nach Sri Lanka reisen, reist die Angst da noch ein Stück mit?
Nein. Ich weiß aber nicht, wie ich reagiere, wenn ich am Meer stehe. Aber nach allem, was man weiß, ist ein zweiter Tsunami eher unwahrscheinlich.
Sie haben also Ihre Erlebnisse verarbeitet. Haben Sie da professionelle Hilfe in Anspruch genommen?
Nein. Wobei mir zugute kam, dass ich nach dem Tsunami noch eine Weile dort war und helfen konnte. Psychosen entstehen nur, wenn man sein eigenes Leid in den Mittelpunkt stellt. Verglichen mit dem, was andere erlebt haben, war das, was mir widerfahren ist, nur ein sehr kleines Leid, eine Randerscheinung.
Wie ist das, in zwei Leben zu leben – die Winterwochen in Sri Lanka, den Rest des Jahres als Verlagsvertreter, wohnhaft in Prenzlauer Berg?
Ich lebe in Sri Lanka sehr intensiv. Ich sammle moderne Malerei aus diesem Land. Und ich fülle meine Seesack, wie ich immer sage, mit Geschichten, Düften, Erinnerungen, Ideen. Das packe ich dann langsam aus, wenn ich zurück in Deutschland bin. Ich mag es, wenn sich die beiden Wirklichkeiten reiben. Aus dieser Reibung entsteht eine Spannung, die ich brauche. Und ich habe meinen Traum noch nicht aufgegeben.
Der da lautet?
Irgendwann für eine lange Zeit nach Sri Lanka. Auch wenn ich weiß, dass man so etwas nicht planen kann.