: Der Stille und das Biest
Der Russe Nikolai Walujew darf sich nach dem Boxkampf um den WM-Gürtel nach Version der WBA Schwergewichts-Champion nennen. Der unterlegene US-Amerikaner John Ruiz wittert derweil Verrat
AUS BERLIN BERTRAM JOB
Es ist ein unhandliches Stück Leder mit allerlei funkelnden Intarsien; jeder stilbewusste Modekunde machte besser einen Bogen darum. Weil der Championgürtel im Profiboxen aber Macht und Moneten verspricht, reißen sich immer wieder einige der tollkühnsten Männer dieses Planeten darum. Zum Beispiel in Berlin, wo am Samstagabend gleich zwei Handgemenge um das Statussymbol eines Schwergewichts-Weltmeisters nach Version der World Boxing Association (WBA) stiegen. Eines war offiziell avisiert, ein zweites eher spontan, und wer dabei jeweils Vorteile hatte, war nicht so einfach auszumachen. Es war einfach kein Abend der eindeutigen Mehrheiten in Berlin.
Großes Kino war aufgeboten, als der zwischen St. Petersburg und Berlin trainierende Nikolai Walujew den US-amerikanischen Titelträger John Ruiz alias „The Quiet Man“, den stillen Mann, zum Duell forderte. Unter den Anwesenden befand sich mit Muhammad Ali, mit der Otto-Hahn-Medaille geehrt, die größte verfügbare Box-Ikone überhaupt. Von der Eleganz und dem Furor vieler Ali-Kämpfe war im Kräftemessen der Hauptdarsteller wenig zu sehen. Zwölf Runden lang hatten sich der 2,13 Meter große Russe und sein um 25 Zentimeter kleinerer Gegner mit begrenzten Mitteln egalisiert. Jedes Urteil schien nach dem Endes des Kampfes möglich.
Als dann der riesige Underdog als neuer Champion nach Mehrheitsentscheid (116:114, 116:113, 114:114) verkündet wurde, startete Ruiz’ Trainer Stone einen zweiten Kampf. Wutentbrannt entriss er Walujew den Gürtel, der ihm als ersten Russen in der Geschichte des Schwergewichts umgelegt worden war – und wurde dafür von einem Assistenten aus der gegnerischen Ecke mit einer Rechten gekontert. Ohne die beherzte Intervention der Sicherheitskräfte wäre daraus ein Gemenge geworden, weshalb sich noch manche Offizielle mit dem genaueren Ablauf der Ereignisse beschäftigen werden. Doch wer da wen provoziert hat, blieb wie so manches an diesem seltsamen Abend in der Schmeling-Halle offen.
Hatte der wieder bedächtig startende Walujew in der Summe genug getan, um einen amtierenden Weltmeister zu entthronen? Immerhin hatte er die zweite Hälfte dieses Kampfes kontrolliert. Erstaunlich geschlossen in der Deckung, landete er dank seiner überlegen Reichweite manche Gerade. Selbst kleine Schlagserien blitzten gelegentlich auf, und als der Koloss im neunten Durchgang zwischendurch gar einen Ali-Shuffle tanzte, hatte er für ein paar Momente die lautstarke Meute auf seiner Seite. Er selbst fühlte sich hinterher auch als legitimer Sieger und ließ in russischer Manier mitteilen: „Ein besseres Geschenk für Silvester gibt es nicht.“
Geschenk war allerdings exakt der Vorwurf, den das Lager des bisherigen Weltmeisters zu später Stunde erhob. Erst hatte er hier in Germany so eine gute Zeit mit netten Leuten, wunderte sich John Ruiz – aber am Ende fühlte er sich „robbed without a gun“, ohne Waffe ausgeraubt. Ruiz war zunächst der deutlich Aktivere im Ring gewesen und hatte seinen Herausforderer einige Male mit hoch angesetzten Haken über die Deckung hinweg getroffen. Doch nachhaltig erschüttern konnte er Walujew dadurch nicht. Mit zunehmendem Kampfverlauf wirkte er immer frustrierter – ein verzweifelter Wanderer in der Halbdistanz, der keinen rechten Weg zum Berg hinauf fand. Auch er wusste nicht genug auszurichten, um das verbissene Duell klar zu prägen, auch wenn sein Trainer Stone hernach mit einem großen Stofftaschentuch unter der Nase vor der Presse giftete: „Diese Entscheidung stinkt!“
Was stinkt, ist jedoch nicht das vertretbare Urteil. Es ist ein allgemeines Befinden von Unangemessenheit, das sich bei Walujew einstellt: Die grotesk wirkenden physischen Unterschiede verhindern notgedrungen fast jeden adäquaten Schlagabtausch. Walujew aber darf an seinem Gürtel festhalten, bis irgendwer das rechte Mittel gegen ihn findet. Und Ruiz’ extravagantem Promoter Don King ist es vermutlich sogar lieber so. Der silbergraue Impresario träumte auch in dieser Nacht lieber laut von einem Turnier zwischen den Champions der vier gewichtigsten Verbände, als sich weiter für seinen Mandanten zu verwenden. Einmal mehr ist der große Exzentriker mit einem Champion angereist, um dann mit einem anderen heimzukehren. Denn schon vor dem Berliner Showdown hatte Don King sich Optionen, also Beteiligungen an künftigen Profiten aus WM-Kämpfen mit Nikolai Walujew gesichert. Manche Männer gewinnen immer – und manche nicht mal richtig, wenn man sie zum Sieger erklärt.
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