„Das Experiment ist gescheitert“

Den Grünen fehlen Wirtschaftskonzepte, sagt Matthias Berninger, grüner Wirtschaftsexperte. Er fordert gesenkte Lohnnebenkosten für Geringverdiener

taz: Bis vor kurzem waren Sie Staatssekretär bei Verbraucherministerin Renate Künast – jetzt sind Sie Abgeordneter im Bundestag. Vermissen Sie den Einfluss Ihres alten Postens?

Matthias Berninger: Churchill hat mal gesagt: Was ich am meisten vermisse, ist mein Dienstwagen. Bei mir ist es die Organisation meiner Termine. Chaotisch, wenn ich es selbst machen muss.

Als neuer wirtschaftspolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion diagnostizieren Sie beim Thema Ökonomie ein innerparteiliches Vakuum. Wieso?

Wir standen in der vergangenen Legislaturperiode unter dem permanenten Druck des Regierungsalltags und haben unsere Konzepte nicht so weiterentwickelt, wie es notwendig gewesen wäre. Deshalb glaubt jetzt nur ein Prozent der Deutschen, dass die grüne Partei in der Lage sei, mehr Wohlstand zu schaffen.

Ist dieser Eindruck nicht richtig – haben die Grünen zu sehr auf Sparen und zu wenig auf Wachstum und neue Jobs gesetzt?

Ab 1999 versuchte die rot-grüne Bundesregierung das Kunststück zu vollbringen, die Steuern massiv zu senken und gleichzeitig das Defizit im Bundeshaushalt zu verringern. Mit etwas Abstand kann man sagen, dass das ein sehr kühnes Experiment war. Es ist gescheitert.

Warum hat dieser rot-grüne Politikversuch nicht funktioniert?

Die Steuerreform, speziell die starke Senkung des Spitzensteuersatzes von 53 auf 42 Prozent, hat die Konjunktur nicht ausreichend belebt und zu wenige neue Arbeitsplätze geschaffen. Die Leute haben einen Teil des zusätzlichen Geldes einfach auf die Sparkonten gelegt, aber nicht ausgegeben. Dadurch wuchs schließlich auch das Loch in den öffentlichen Kassen.

Großbritannien, Schweden und Finnland hatten zu Beginn der 1990er-Jahre mit einer ähnlichen Wirtschaftsschwäche zu kämpfen – reagierten aber anders. Die Regierungen sparten nicht, sondern verschuldeten sich massiv, um die Konjunktur anzukurbeln. Ein Vorbild?

Nein, der Aufbau Ost war doch das größte Programm öffentlicher Investitionen, das es jemals gab. Ist die Arbeitslosigkeit dadurch verschwunden? Verschuldung und Investitionen haben keinen Sinn, wenn sie nicht durch Strukturreformen begleitet sind. Die Grünen sollten sich deshalb darauf konzentrieren, die Kosten der Arbeit zu senken. Diese sind für relevante Teile der Wirtschaft schlicht zu hoch.

Warum haben Sie das nicht schon gemacht, als Sie noch in der Regierung waren?

Wir haben es gemacht, denken Sie an die Finanzierung der Rente durch die Ökosteuer. Aber wir waren der kleinere Koalitionspartner. Mehr konnten wir mit der SPD nicht durchsetzen.

Wie sieht Ihr neues Konzept aus?

27 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer bezahlen heute denselben Satz der Lohnnebenkosten: rund 21 Prozent. Und zwar unabhängig davon, ob sie viel oder wenig verdienen. Durch diese einheitliche Belastung wird schlechter bezahlte Arbeit über Gebühr verteuert. Wir schlagen daher vor, Geringverdienern einen niedrigeren Satz bei den Sozialabgaben zuzugestehen. Die Arbeitskosten würden sinken und neue Jobs entstehen.

INTERVIEW: HANNES KOCH