„Sie sind doch kein Deutscher!“

ANKUNFT Alexander Reiser kam mit 34 Jahren aus Sibirien nach Berlin. Als Russe fühlte er sich erst in Deutschland

■ ist Schriftsteller. Er wurde 1962 in Sibirien geboren und siedelte 1996 mit Frau und Tochter nach Berlin über.

VON ALEXANDER REISER

Als ich 1996 als Spätaussiedler nach Deutschland kam, dachte ich: Jetzt wirst du endlich kein Außenseiter mehr sein und einmal dazugehören. Ich wollte nach Berlin, weil ich dort schon einmal zu Besuch war und dachte: Das ist meine Stadt. Diese Weite, diese Vielfalt, diese Offenheit! Ich bin durch Hellersdorf gelaufen, wo man mir eine Wohnung zugewiesen hatte, mit meinem neuen deutschen Pass, und habe mich frei gefühlt wie nie zuvor.

Dann sagte ein Mann auf dem Amt zu mir: „Sie mögen vielleicht Russlanddeutscher sein. Aber Deutscher?“ In den Zeitungen las ich, dass Russlanddeutsche „Wahlvieh der CDU“ seien, und ein Mann auf der Straße schimpfe, dass jetzt jeder hierher gelockt würde, der in Russland einen deutschen Schäferhund besessen habe. Dabei gebe es nicht einmal für Deutsche genügend Arbeitsplätze.

Jetzt bist du wieder nicht willkommen, dachte ich.

Ich wurde 1962 in einem Land geboren, das ein besonderes Verhältnis zum Thema Nationalität hatte: Einerseits verstand sich die Sowjetunion als Vielvölkerstaat, andererseits gab es eine Rangordnung zwischen den Völkern, fast wie im Kolonialismus. Ein Kalmücke blieb nach dem öffentlichen Verständnis ein Kalmücke, ein Deutscher ein Deutscher. Die Nationalitäten standen ja sogar im Personalausweis.

Meine Vorfahren haben seit Generationen in Russland gelebt. Ich bin in Russland geboren. Trotzdem habe ich immer zu spüren bekommen, dass ich einen Makel trage: den Makel der Geschichte.

Was in Deutschland vor sich ging, haben meine Verwandten kaum mitbekommen. In Pfeifer, ihrem Dorf im Wolgagebiet, gab es ja damals weder Radio noch Zeitungen. Sie haben sehr für sich gelebt, sie sprachen ja kein Russisch, sondern den altschwäbischen Dialekt ihrer Vorfahren, die 1776 nach Russland ausgewandert sind, auf Einladung von Zarin Katharina, die deutsche Siedler anwarb, damit sie den Boden in den dünn besiedelten Landstrichen urbar machten.

1941, nach dem Überfall der deutschen Armee auf die Sowjetunion, wurden die Deutschen in die entlegensten, kältesten Teile des Sowjetreichs deportiert. Meine Verwandten landeten in Sibirien im Gebiet Omsk in einem Dorf namens Hoffnungstal.

Ich habe die ersten sechs Jahre meines Lebens nur Schwäbisch gesprochen. Wir haben Weihnachten gefeiert, deutsche Lieder gesungen, und meine Großeltern sind jede Woche in die katholische Kirche gegangen. Hoffnungstal, ein sibirisches Verbannungsdorf, war für mich ein Ort der Geborgenheit.

Meine Frau, die 1996 ein paar Monate nach mir nach Deutschland kam, hat gesagt: Du darfst das nicht so ernst nehmen, die Sprüche über Russlanddeutsche. Meine Frau ist Russin, und ist nicht mit der Erwartung nach Deutschland gekommen, hier als Deutsche akzeptiert zu werden. Sie hat schnell einen Job in einem Hotel gefunden, das von einem Russen geführt wurde. In Wladiwostok war sie Japanisch-Übersetzerin.

Ich konnte nicht mehr als Journalist arbeiten, weil mein Deutsch dafür nicht gereicht hat. Der alte Schmerz holte mich ein.

Als ich sechs Jahre alt war, schickten mich meine Eltern allein zu Verwandten ins 120 Kilometer entfernte Omsk, wo ich Russisch lernen sollte.

Denn in der Schule, in die ich eingeschult werden sollte, durfte kein Deutsch mehr gesprochen werden. Die Kinder in Omsk haben mich verspottet: „Haha, ein Russe, der nicht mal Russisch sprechen kann!“

Später in der Schule haben die russischen Kinder mich „Faschist“ genannt. Freunde riefen im Streit: „Wir hätten euch alle ausrotten sollen!“ Ich war verwirrt: Meine Familie, die mir so viel Geborgenheit gegeben hatte, sollten Feinde und Verräter des Volkes sein, wie es die Propaganda verkündete?

Und als Sohn dieser Verräter sollte ich später trotzdem in der russischen Armee dienen? 1980 landete ich in einer Kaserne im Fernen Osten, mitten in der Taiga. Wir mussten die Trasse für die Baikal-Amur-Magistrale bauen. Bei minus 40 Grad, ohne Winterausrüstung und Maschinen, erfroren Wehrdienstleistende oder starben bei Unfällen. Ein Menschenleben, wurde mir damals klar, zählt in diesem Land nicht viel. Ein Land, das abgeschottet war wie ein Gefängnis. Die einzige Möglichkeit, sich als junger Deutscher freier zu bewegen, schien mir die Hochseeflotte. Und so meldete ich mich als Matrose. Doch als ich eine Pass beantragen wollte, um auch internationale Gewässer zu befahren, sagte der Mann auf der Verwaltung erstaunt: „Können Sie sich nicht denken, dass ich Ihnen den nicht ausstellen darf?“ Da wurde mir klar, dass ich mit dieser Nationalität immer auf Misstrauen stoßen würde. Deutsche – das waren kaltherzige Menschen, die nicht lieben konnten und im Zweifel Russland verrieten.

Das war gar nicht persönlich gemeint. Die Leute hatten ja keine Möglichkeit, sich vom Gegenteil zu überzeugen, die Medien waren unter staatlicher Kontrolle und ins Ausland kam man auch nicht einfach so.

Einerseits sollte ich nicht zu dieser Gesellschaft gehören, in die ich hineingeboren wurde, andererseits hat sie mich aber auch nicht gehen lassen. Das hat mir diesen Schmerz eingebrannt, ein Fremder, ein Geächteter im eigenen Land zu sein, der mich nie mehr ganz losgelassen hat.

In Berlin habe ich an einem Sprachkurs teilgenommen, weil ich mein Schwäbisch loswerden wollte, das viele für einen ausländischen Akzent hielten. Ich habe auf dem Bau gearbeitet. In der Mittagspause sah ich in einer Zeitung eine Stellenausschreibung: Quartiersmanager mit Russischkenntnissen für Hellersdorf gesucht. In meinen Bauklamotten ging ich in eine Telefonzelle und rief an.

Als Gorbatschow 1985 an die Macht gekommen war, durfte ich in Wladiwostok Journalistik studieren, habe mich als Redakteur gemeinsam mit russischen Kollegen für politische Veränderungen eingesetzt, und ein „Gesetz zur Wiedergutmachung der unterdrückten Völker“ wurde erlassen.

Aber dann gab es an der Wolga Demonstrationen gegen eine Rückkehr der Deutschen aus Sibirien. Auf den Plakaten stand: „Lieber Aids als die Deutschen“. Als Jelzin dann auch noch spottete, die Deutschen könnten sich ja auf dem Atomwaffentestgelände ansiedeln, wollte ich nur noch weg.

Für jedes Papier, jeden Stempel musste man Schmiergeld zahlen. Selbst die Mitarbeiter der deutschen Reiseagentur, die uns die Flugtickets ausstellen sollten, wollten etwas dazuverdienen.

Ich war jetzt also in Berlin, wo alles irgendwie multikulti war. Und dann bin ich eines Tages auf der Rückfahrt von einer Veranstaltung in Süddeutschland in diesem schwäbischen Dorf gelandet, in dem die Leute genauso sprachen wie ich. Ich war müde von der Autobahn abgefahren, parkte mein Auto an einem Feld und dämmerte ein. Beim Aufwachen hörte ich Stimmen, die aus meiner Kindheit zu kommen schienen. Ich sprach mit Bauern. Niemand fragte, ob ich Russe sei oder Deutscher. Ich wollte erst gar nicht zurück nach Berlin.

Aber meine Tochter ist doch da zur Schule gegangen. Überhaupt: Was sollte ich in einem Bauerndorf machen?

Gib nichts drauf, was die Leute sagen, sagte eine Stimme in mir, du hast ein Recht, hier zu sein.

In Berlin-Hellersdorf habe ich später einen Verein gegründet, der Russlanddeutschen hilft, sich zurechtzufinden. Sprachkurse, Einführung ins Gesundheitssystem. Die Leute haben so gleich Kontakt. Viele kommen leider kaum aus Hellersdorf heraus. „Ich wusste gar nicht, dass es in Deutschland Wälder gibt“, hat eine Frau gesagt, als wir mal nach Brandenburg fuhren.

Halb Hoffnungstal wohnt jetzt in Deutschland. Ich fühle mich wohl. Gleich hinter den Häusern beginnt das Grün. Die Wohnungen sind günstig und auf dem neusten Stand. Das einzige, was mich schmerzt, ist, dass sich kaum jemand für unsere Geschichte interessiert.

Ja, vielleicht wäre das Heilung: wenn unsere Geschichte endlich als Teil der deutschen Geschichte betrachtet werden würde.

■ Aufgezeichnet von Merle Hilbk