KOMMENTAR VON DANIEL BAX ÜBER DOPPELMORAL IM UMGANG MIT JUGENDGEWALT
: Gewalt hat viele Gesichter, echte Trauer nicht

Nicht nur Migranten hegen den Verdacht, dass der Täter ein Trittbrettfahrer des NSU ist

Wenn es die Mordserie des NSU nicht gegeben hätte, hätte sich Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU) vermutlich nicht auf den Weg gemacht, die Familie des Gewaltopfers Burak B. zu besuchen. Der damals 22-jährige Burak B., dies zur Erklärung, wurde vor genau einem Jahr nachts in Berlin-Neukölln auf offener Straße erschossen. Der oder die Täter sind immer noch unbekannt.

Nicht nur Migranten hegen im Fall Burak B. den Verdacht, dass der Täter ein Trittbrettfahrer der NSU-Terroristen gewesen sein könnte. Und die Aufregung über Wohnungsbrände in Köln und Backnang in den letzten Wochen hat gezeigt, wie tief die Ängste türkischer Einwandererfamilien vor rassistischen Anschlägen sitzen. Nur stoßen solche Ängste nicht überall auf Verständnis. Manche finden schon den Wirbel um die NSU-Mordserie übertrieben.

Viele Deutsche fühlen sich persönlich viel stärker durch Jugendgewalt auf der Straße bedroht als durch Neonazis, in deren Visier sie nicht stehen. Das erklärt, warum die öffentliche Anteilnahme am Tod des 20-jährigen Jonny K., der im Oktober am Berliner Alexanderplatz zusammengetreten wurde, bisher viel größer war als die am Tod von Burak B.

Tatsache ist, dass sich unter jugendlichen Intensivtätern überproportional viele finden, die türkischer Herkunft sind – so wie es im Osten Deutschlands überdurchschnittlich viele Neonazis gibt. Das festzustellen heißt nicht, Vorurteilen das Wort zu reden, denn für beides gibt es Erklärungen. Aber diese Tatsache lädt eben schnell zum Vereinfachen ein. So haben sich in die ehrliche Anteilnahme am Tod des Jugendlichen Jonny K. auch türkenfeindliche Ressentiments gemischt. Und Rechtsextreme instrumentalisieren derartige tragische Vorfälle gerne für sich, wenn das Opfer – anders übrigens als Jonny K. – unbestritten deutscher Herkunft ist.

Politik und Medien tun deshalb gut daran, dem Eindruck entgegenzutreten, nicht jedes Opfer auf gleiche Weise ernst zu nehmen. Darum ist es ein positives Zeichen, dass an diesem Wochenende in Berlin beider Opfer gedacht wird – Jonny K.s, der mutmaßlich von sechs türkischstämmigen Jugendlichen totgetreten wurde, und Burak B.s, bei dem die Hintergründe seiner Ermordung bisher noch unklar sind. Denn Gewalt gegen Jugendliche hat viele Gesichter. Die Trauer der Angehörigen und Freunde nicht.