Immer fremd, aber doch schrullig deutsch

Ines Bellati-Ritzenhoff (61) kam 1956 als eines der ersten italienischen Gastarbeiterkinder nach Nordrhein-Westfalen. Ein Porträt

„Die Fabrik hat meinen Vater kaputt gemacht“

AUS HAGEN NATALIE WIESMANN

In Heimaterde will sie begraben werden. „Die Vorstellung, dass ich hier auf einem deutschen Friedhof unter der Erde liege, ist schrecklich.“ Früher wäre das der 61-Jährigen egal gewesen. „Je älter ich werde, desto öfter habe ich Bilder von Italien vor mir.“ Wer Ines Bellati-Ritzenhof sieht, kann sich ihr Begräbnis nicht vorstellen. „Ich habe mich hier nie richtig wohl gefühlt“, sagt die zierliche Frau mit Nachdruck. Heute erst, erzählt sie, hätte sie das Kind einer deutschen Frau angelächelt – und die Mutter hätte sie nicht mal angeschaut. „Sowas würde in Italien nie passieren.“ Sie könne es gar nicht fassen, dass sie schon seit 50 Jahren in Deutschland ist, sagt sie und schüttelt ihren Lockenkopf.

Heimaterde, das ist für Ines Bellati-Ritzenhoff ihr Geburtsort Ostilia, eine Kleinstadt in der Lombardei. Von da zog Bellati-Ritzenhof 1956 als Zwölfjährige mit ihrer Mutter nach Hagen-Haspe. Der Vater arbeitete dort seit zwei Jahren in einer Gießerei. Bellatis Familie war bereits Gastarbeiter in Deutschland, als diese noch Fremdarbeiter hießen: seit Ende des 19. Jahrhunderts. „Die Fabrik hat meinen Vater kaputt gemacht“, sagt Bellati-Ritzenhoff. Im Alter von 58 Jahren ist er gestorben. An die Respektlosigkeit, mit der ihr Vater behandelt wurde, kann sie sich noch sehr gut erinnern: „Die deutschen Kollegen, die haben ihn einfach geduzt.“ Als sie ihrem Vater ein warmes Mittagessen brachte, riefen diese ganz selbstverständlich „Toni, komm mal her.“ Die Deutschen hätten sie nie für voll genommen.

Auch ihr eigenes Leben verlief nicht so, wie sie es sich gewünscht hätte. „Ich war am Anfang das einzige italienische Kind im Viertel.“ Obwohl sie schnell Deutsch lernte, durfte sie nur ein drei Viertel Jahr lang in die Schule, als „Gastschülerin“; ein langer Aufenthalt war für die Gastarbeiter nicht vorgesehen. Für die lerndurstige Ines Bellati war das „ein Trauma“. Mit 14 Jahren ging sie statt zur Schule in die Fabrik.

Früher war die italienische Lebensart, die „Dolce Vita“, nicht so beliebt wie heute. „Unser Haus stand immer für meine deutschen Freunde offen“, sagt Bellati-Ritzenhoff. Anders herum wurde sie aber selten in die deutschen Stuben reingelassen. Das konnte sie dann wiederum daheim nicht erzählen, weil es ihre Eltern traurig gemacht hätte. Um den Unterschied zwischen italienischer und deutscher Gastfreundschaft zu demonstrieren, springt Bellati auf, geht hinter die Wohnzimmertür und macht sie einen Spalt weit auf – wie eine deutsche Mutter, die den Zugang zum Haus versperrt: „Nein tut mir leid, unsere Tochter kann jetzt nicht, wir sind beim Abendessen“, äfft Bellati sie nach. In ihrer Familie sei dies anders, auch heute noch: „Wer vorbeikommt, isst mit.“ Später, als die ersten Jugoslawen und Türken kamen, als die ersten Pizzerien eröffneten, da waren die Italiener dann nicht mehr die fremden „Spaghetti-Fresser“. Dann hieß es immer öfter: „Der ist Italiener, aber nett“, sagt sie mit sarkastischem Unterton. Ines hat das nie als Kompliment empfunden.

Die Fabrikarbeit und die Einsamkeit in Deutschland machten auch die heranwachsende Ines kaputt – seelisch. Mit 16 Jahren war sie wegen Depressionen in psychiatrischer Behandlung. Zum Glück konnte sie dann bei ihrem Psychiater als Sprechstundenhilfe anfangen. „Das war das erste Mal, dass ich mich irgendwo angenommen fühlte“, erinnert sie sich gerne an die Zeit zurück. Dass sie dort den offiziellen Briefverkehr erledigte, war nach einem drei Viertel Jahr Deutsch lernen nicht selbstverständlich. „Ich habe unheimlich viel gelesen“, sagt sie und nennt Schopenhauer, Hesse, Hölderlin. „Bitte schreiben Sie das nicht, das klingt so eingebildet.“ Hölderlin, das sei ein Stückchen Heimat für sie. „Wenn ich schon einmal gelebt haben sollte, dann in seiner Zeit.“ Das Interesse für Kunst, Literatur und vor allem das Faible für italienische Opern hat sie von ihren Eltern. In Italien sei Kultur nicht der Elite vorbehalten. „Mein Vater war trotz seiner geringen Schulbildung ein feiner Mann“, sagt Bellati. Fein ist auch das erste Attribut, das man ihr anheften möchte.

Nach einer gescheiterten dreijährigen Ehe und der Geburt ihrer ersten Tochter lernte Bellati ihren jetzigen Mann Wolfgang Ritzenhoff kennen. Er war ihr Scheidungsanwalt. „Das hat etwas von einem kitschigen Film“, sagt sie lachend. Aber das passe irgendwie zu ihr, zu ihrem Hang zur Romantik. Pragmatisch ist dafür ihr Verhältnis zur Staatsangehörigkeit. Seit 1979 hat sie den deutschen Pass, weil sie so für ihre zweite Heirat nicht wieder die Papiere aus Italien beschaffen musste. „Es ist doch egal, was auf dem Papier steht.“ Mit dem Pass kam das Wahlrecht. Meistens habe sie die Grünen, bei der Bundestagswahl im September hat sie aber Angela Merkel gewählt: „Nicht wegen der CDU, sondern weil sie eine Frau ist.“ Traditionell stehe sie eher links, ihr Vater war „Partisane“, mit ihm ging sie als Kind auf die 1.-Mai-Demo.

Mitte der 90er Jahre begann sie Gedichte zu schreiben. Auf Deutsch. So verarbeitete sie mit Poesie das Verhältnis zu ihren Eltern, ihre Depressionen, den Rassismus in Deutschland und ihre Sehnsucht nach einem Italien, „das nicht mehr so ist wie früher“. In Ostilia steht heute eine BASF-Fabrik.

Eine neue Heimat hat sie aber dennoch in Deutschland gefunden. Nicht in Hagen, sondern in Fischerhude, einem kleinen Dorf in der Nähe von Bremen. „Die Gegend erinnert mich an unsere Provinz in der Lombardei“, sagt sie. In Fischerhude haben sie und ihr Mann sich mit einer Künstlerfamilie angefreundet, die idyllisch um ein kleines Museum herum wohnt. Mehrmals im Jahr fährt sie dorthin, nach Italien ist es ihr oft zu weit, weil sie unter einer „Reisephobie“ leide.

Wenn ihr Mann mal nicht mehr ist, möchte sie auch nicht leben, und auf keinen Fall ins Altersheim, sagt sie und kauert sich bei der Vorstellung auf dem Sofa zusammen. Dann richtet sie sich auf und überlegt laut: „Mit meinen Freundinnen könnte ich vielleicht eine Wohngemeinschaft gründen.“ Aber vielleicht seien ihre Macken bis dahin dann doch zu ausgeprägt. „Ich glaube, ich werde noch zur schrulligen alten Deutschen.“