„Ich habe Deutschland durchgeackert“

Vor 50 Jahren kamen die ersten Gastarbeiter aus Italien nach Deutschland. Antonio Cardelli war in Hannover dabei: Er schlief in Massenquartieren, wusch Wolle mit 80 Grad heißem Wasser, wühlte mit, wo Deutsche ausfielen. Der ehemalige Arbeitstourist ist heute Generalkonsul. Ein Gespräch

Nur die „Besten“ durften ins Adenauerland kommen

Von Tilman Weber

Die Hände verraten ihn. In gegeneinander drehenden Schraubbewegungen wiegen sie hin und her, während die Finger mit leichtem Druck die Luft massieren. Es sieht eher wie Kneten eines Teigs für Adventsplätzchen aus. Dabei erklärt Antonio Cardelli, wie er vor rund 45 Jahren in einer Fabrik in Hannover Wolle wusch, mit 80 Grad heißem Wasser. Cardelli ist mehr Kopf- als Handwerker, kein echter ehemaliger Gastarbeiter. Mehr so etwas wie ihr Vordenker.

„Wir schliefen in Baracken mit Italienern und Spaniern, 40 Menschen. Wir hatten nur Betten und jeder einen kleinen Tisch.“ Der 64-Jährige ist Italiens Generalkonsul für Niedersachsen. Genau vor 50 Jahren, am 20. Dezember 1955, hatte die Bundesrepublik mit Italien den ersten Anwerbevertrag für Gastarbeiter geschlossen. Als die ersten zum Arbeiten nach Deutschland kamen, war der damalige Politologie-Student aus Rom dabei, von 1957 bis 1961. In München, Köln und Hannover verdiente er sich Geld für Reisen, schlief in Massenquartieren gemeinsam mit Italienern und Spaniern. Vor einem Jahr kam er als Repräsentant Italiens nach Hannover zurück.

Jetzt sitzt er an einem großen Schreibtisch vor der italienischen Trikolore und einem Portrait des Staatspräsidenten Ciampi. Als Botschaftsrat war Cardelli schon in Bonn, Caracas, Kairo und Buenos Aires, als Generalkonsul in Manchester, Stuttgart, Shanghai, St. Petersburg und Hamburg.

Der Generalkonsul ist tief im Schreibtisch-Sessel versunken. Seine Bewegungen sind weich, die Worte wirken ausgleichend. Dafür klingt die Stimme gepresst. „Natürlich: Wir sollten immer die schwierigen Arbeiten machen. In einem Rohbau musste ich mit einer Schere ein Stahlrohr schneiden, im letzten Spitz, sehr unangenehm, ziemlich gefährlich.“ Dann wieder mit Vollklang: „Die Deutschen waren meist älter, sie hatten eine Familie, der sie erhalten bleiben mussten. Ich verstehe das.“

Mit ihrer Einsatzfreude in solchen Kommandos, davon ist Cardelli überzeugt, haben sich die Italiener den Deutschen als wertvolle Aufbauhelfer bewusst gemacht – lange bevor 1964 der millionste Gastarbeiter in der Bundesrepublik begrüßt wurde und schließlich auch Spanier, Griechen, Türken, Marokkaner, Portugiesen, Tunesier, Türken und Jugoslawen kamen.

In Hannover schuftete Cardelli auf Baustellen und im Druckzentrum der Lokalpresse. Er wühlte mit, wo Deutsche ausfielen. „Ich habe Deutschland durchgeackert“, sagt der Generalkonsul.

Arbeit war überall. Dass er auf seinem Giro della Germania nach Hannover kam, war purer Zufall. Der anfangs 16-, bei Ende seiner Deutschlandfahrten gerade 20-jährige Arbeitstourist ging auf Baustellen, in Hotels, zu Fabriken, fragte an und durfte meist sofort anfangen. Der Diplomat war früher Schwarzarbeiter ohne jede Versicherung.

Reguläre Gastarbeiter hingegen mussten sich vor der Rekrutierung zu Hause Gesundheitstests unterziehen, die Musterungen in Kreiswehrersatzämtern durchaus nahe kamen. Nur die „Besten“ durften ins konservative Adenauerland kommen.

Heute noch bedauert der Sohn eines Ingenieurs aus Umbrien das „falsche Bild“, das die Deutschen von seinen Landsleuten gewannen. Eingereist waren nämlich hauptsächlich Menschen aus Süditalien, vom Land, arm und ungebildet. Auch im wohlhabenden Norditalien hätten sich damals die Arbeitsmigranten von der Stiefelspitze eingefunden, sagt Cardelli. Dort habe man sie Terronigenannt: „Die aus der Erde kommen.“

Letztlich sei das mit den Gastarbeitern „eine Tragödie“ gewesen. Es sieht aus, als kaue Cardelli das letzte Wort, wie etwas, das nicht schmeckt. Viele Gastarbeiter hätten arme Dörfer und Städte hinter sich gelassen. Erst langsam seien diese Orte durch Tourismus und Fortschritt reich geworden. Bei Heimfahrten habe man zurückgelassene Freunde jedes Mal in größeren Restaurants, bedeutenderen Läden vorgefunden. Italienische Deutschland-Migranten seien hingegen oft anonyme Fabrikarbeiter geblieben.

Das Konzept – begrenzte Arbeitsjahre in der Fremde, Rückkehr im Erfolg – sei früh gescheitert. Er seufzt, fordert seinen Sprecher zum Weiterreden auf. Der startet einen staatsrechtlichen Exkurs: Das freie Niederlassungsrecht für Arbeitnehmer in EU-Mitgliedsstaaten habe das Phänomen Gastarbeiter erledigt.

Vier Millionen Menschen sind laut italienischer Botschaft seit 1955 aus Italien nach Deutschland emigriert. Fast 90 Prozent von ihnen kehrten zurück. Von den heute in Deutschland lebenden Italienern aber, 550.000 einschließlich hier Geborener, ist jeder dritte Mann mit einer Deutschen verheiratet und so an Deutschland gebunden. 18 Prozent der arbeitsfähigen ItalienerInnen in Deutschland sind arbeitslos.

Ist Deutschland etwa italienischer geworden? Cardelli lacht, das Thema mag er. „Gott sei dank waren die Deutschen resistent. Die Italiener sollen Italiener bleiben, die Deutschen Deutsche. Ich mag keinen Melting Pot. Ich sehe es als einen Albtraum an, zu werden wie in den Vereinigten Staaten, wo ein Hamburger dasselbe ist in San Fransisco, Seattle, Orlando oder Houston.“

Ein schönes Bild. Es zu skizzieren, mag leicht fallen für jemanden, der seine Privatwohnung in Hannovers elitärem Zooviertel hat, nicht weit weg vom Altkanzler. Er weiß, dass Integration viel mehr ist. Für ihn ist sie erreicht, wenn die Italiener genauso auf soziale Schichten verteilt sind wie die Deutschen, verhältnismäßig also ebenso viele Ärzte und Professoren stellen.

Tatsächlich ist schon die Schulbildung italienischer Kinder in Deutschland im Vergleich zu anderen Migrantengruppen besonders niedrig. Als Generalkonsul kümmert Cardelli sich viel um Kultur. In Hannover, wo heute 3.000 Italiener leben, begrüßt er das Publikum einer italienischen Filmwoche, in Wolfsburg eröffnet er eine Ausstellung über Etrusker. Volkswagen hatte seit 1962 italienische Gastarbeiter beschäftigt, 1971 sogar 9.000. Die Autostadt ist das niedersächsische Zentrum der Italiener.

Cardelli zieht an einem Finger. „Ein italienischer Arbeiter sagte einmal zu mir: Die Kultur ist eine Frage für Herrschaften. Ich war wütend. Das ist es doch gerade. Italienische Gastarbeiter müssen an ihrer eigenen, auch kulturellen Bildung interessiert sein.“

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