Nabelschau im Jenseits

In artfremder Kleidung feiern eine Schar Leistungssportler sowie einige Sportjournalisten sich selbst. Die Besten der Besten dürfen sich „Sportler des Jahres“ nennen. Diesmal sind es die winterlichen Zweikämpfer Uschi Disl und Ronny Ackermann

AUS BADEN-BADENFRANK KETTERER

Das Leben ist ein langer, ruhiger Fluss, und in diesem Fluss gibt es ein paar markante Punkte. Gerade jetzt ist das wichtig, da der Wind längst die Blätter von den Bäumen gefegt hat und es wieder lausig kalt geworden ist in Deutschland. Eine Konstante ist die Kür der Sportler des Jahres – alle Jahre wieder.

Die allergrößte und allerbeste Sportler-des-Jahres-Kür findet zweifelsohne in Baden-Baden statt, über das kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen zu lesen stand, es mute an wie eine Stadt aus dem Jenseits, deren Bewohner längst gestorben seien. Richtig ist vielmehr, dass das Städtchen an der Oos sehr mondän und vornehm ist. Aber das passt ja auch zu so einer Gala, die sich selbst als „Familienfest des deutschen Sports“ sieht. Tatsächlich ist es so: Es wir geprotzt und angegeben, ganz nach dem Motto: sehen und gesehen werden.

Uschi Disl zum Beispiel konnte man am Sonntagabend in Baden-Baden in einem roten Kleid sehen, das vorne und an der Seite so weit ausgeschnitten gewesen ist, dass nicht viel Stoff zu vernähen war. Dort, wo sie üblicherweise ein Gewehr trägt, war nur pure Haut, weshalb Disl auf den ersten Blick schwer zu erkennen war. Würdevoll schritt sie die mit rotem Teppich ausgelegten Treppen zum Benazetsaal des Baden-Badener Kurhauses empor, begleitet vom Blitzlichtgewitter der Fotografen. Erst als sie ihr Disl-Lächeln lächelt, weiß man, dass es sich da tatsächlich um die Biathletin handelt. Durchaus ein Hinkucker ist auch das weinrote Kleid, in dem Antje Buschschulte steckt, die große blonde Schwimmerin. Bei den Herren der Schöpfung hingegen herrscht in erster Linie das schwarz-weiße Einerlei vor.

Das Besondere am Familienfest von Baden-Baden ist, dass zuvor schon die Lieblingsverwandten gewählt wurden. Bereits im November wurde das gemacht von den deutschen Sportjournalisten. Das hat, weil Sportschreiber bis auf wenige Ausnahmen ungewöhnlich kluge und vernünftige Menschen sind, den unschätzbaren Vorteil, dass stets ein gerechtes Urteil gefällt wird. Nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse sind zudem die Fronten geklärt, zumindest für ein Jahr.

Bis es so weit ist, kommt erst mal das Essen. In diesem Jahr werden ein Tomatenconsommé mit Basilikumnocken und Jakobsmuscheln, Kalbsrückensteak „Rossini“ mit gebratener Gänsestopfleber auf Gemüsebett und Trüffeljus sowie der Dessertteller „Rumpelmayer“ gereicht, im großen Festsaal des Kurhauses ist bald nur noch das Klappern von Messer und Gabel zu hören – und natürlich auch das Klirren von Weingläsern. Dann kommt wie immer Moderator Poschmann. Poschi macht das eigentlich jedes Jahr, weshalb man sich fragt, warum er es immer noch nicht gut kann. Egal, denn er hat wenigstens die Wahlergebnisse dabei. Das ist gut. Außerdem hat er Kristin Otto als Co-Moderatorin dabei. Das ist weniger gut.

Spannend wird es jetzt trotzdem, weil selbst die anerkanntesten Wahlforschungsinstitute in diesem Jahr keinen klaren Trend ausmachen konnten. Um kurz vor halb zehn Uhr hat sich auch das erledigt, bei den Frauen, so verkündet es Poschi, ist die Wahl auf Disl gefallen, was wirklich in Ordnung geht, weil die kleine Wintersportlerin nett lächelt und weil man ihr betörendes Kleid da oben auf der Bühne noch mal in aller Ruhe studieren kann. Nun steht die nette Uschi, die am Nachmittag noch Dritte beim Weltcup in Osrblie geworden war, auf der Bühne und sagt, natürlich auf Bayerisch: „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“ Den Pokal bekommt sie von ihrem Bruder überreicht, was eine tolle Geste ist, weil der Bruder vor fünf Jahren schwer krank war und Uschi Disl deshalb beinahe den Sport aufgegeben hätte. Zweite wird Anni Friesinger, die diesmal nicht nach Baden-Baden gekommen ist, was man nur bedauern kann, weil Anni bisher noch immer ein mindestens ebenso aufregendes Kleid wie die Uschi angehabt hat. Etwas weniger glamourös kommt hingegen Franka Dietzsch daher, Diskuswerferinnen sind nun mal so, selbst wenn sie im regnerischen Sommer von Helsinki den Weltmeistertitel gewonnen haben. Dietzsch wird Dritte. Und als die Bilder von ihrem Gold-Wurf gezeigt werden, ist die WM ganz nah.

Dann sind die Männer dran, und auch bei ihnen hat ein Wintersportler die Nase vorn, nämlich Ronny Ackermann, der Kombinierer. Der hat ja erst kürzlich seinem finnischen Konkurrenten Hannu Manninen mit dem Skistock gepiekst, nun ist es ausgerechnet der Finne, der Ackermann den Pokal überreicht. Das ist wirklich eine große Geste – und vielleicht sollten die deutschen Sportjournalisten nächstes Jahr diesen Manninen zum Sportler des Jahres wählen. Danach ist Dirk Nowitzki an der Reihe, wobei das ZDF, das das Familienfest überträgt, da ein bisschen schummelt. Weil der lange Dirk, der die deutschen Basketballer fast ganz allein zu Platz zwei bei der EM geführt hat, am Abend noch ein Spiel mit den Dallas Mavericks hat drüben in den Staaten, wird sein Interview schon zwischen Vor- und Hauptspeise aufgezeichnet und nun aus der Konserve gesendet. Dirk wird Zweiter und vollbringt das kleine Wunder, auch noch Erster zu werden – mit den deutschen Basketballern, die das Rennen bei der Mannschafts-Wahl machen, gefolgt von den deutschen Fußball-Frauen und dem FC Bayern München.

Um kurz nach zehn Uhr ist alles überstanden, die Gewählten müssen noch einmal auf die Bühne, schon wegen der Fotografen, und die Party kann endlich richtig losgehen. Darüber, auch das ist eine feste Konstante, wird an dieser Stelle besser nicht berichtet.