ARNO FRANK über GESCHÖPFE
: Mit dem Christkind im ICE

Weihnachten bei der Familie? Kommt ganz drauf an, wie tolerant, gepflegt und pervers die Eltern sind …

Weihnachten ist eine wuchtige Welle. Ohne Fernglas ist sie von der Küste aus noch gar nicht zu erkennen, da sind die meisten Surfer längst im Wasser und paddeln ihr eifrig entgegen – um sie voll auszureiten, bevor sie bricht. Wow. Als einsamer Nichtschwimmer wage ich mich höchstens in hüfthohe Fluten, halte die Luft an, tauche in letzter Sekunde unter … und hoffe, Weihnachten möge wieder möglichst schonend über mich hinwegrollen. So war’s immer.

Und wäre mir letztes Jahr um diese Zeit nicht Andreas Stroh begegnet, wäre es wohl auch immer so geblieben. „Tach, ich bin der Andreas Stroh“, hatte Andreas Stroh gesagt, nachdem er seine Sporttasche in mein ICE-Raucherabteil gewuchtet und mit einem Seufzer unendlicher Erleichterung endlich Platz genommen hatte. Er war etwa in meinem Alter und füllte das Abteil vom ersten Augenblick an mit einem süßen Duft, wie er nur von argloser Harmlosigkeit ausgehen kann. Als er die Beine übereinander schlug, rutschte das Hosenbein hoch. Seine Socken waren mit Entchen bedruckt. Mit niedlichen Entchen.

„Geil, du trinkst schon Bier!“, stellte er anerkennend fest und wühlte in seinem Rucksack nach einer eigenen Dose. Auf dem Rucksack prangte ein kleiner Button mit dem „Pampers“-Schriftzug. Wir stießen „auf Weihnachten“ an, und nachdem er sich den Schaum von der Oberlippe gewischt hatte, fragte er: „Fährst du auch heim zu deinen Eltern?“

Ich erklärte ihm, dass ich „über die Tage“ gerne bei Freunden untertauche, die als praktizierende Hindus für christliche Rituale nur ein mildes Kopfwackeln übrig haben. Oder, wie der große Karl Lagerfeld neulich bei „Kerner“ sagte: „Weihnachten ist für Kinder, nicht wahr, erwachsene Menschen sollten das nicht übertreiben, n’est-ce pas?“

Andreas Stroh kicherte nur in sich hinein und sagte: „Also, ich besuche meine Eltern“, wobei er das Wort „Eltern“ merkwürdigerweise in pantomimische Gänsefüßchen setzte: „Sie leben in Hannover und sind total nett. Ich freue mich schon das ganze Jahr darauf, meine Eltern zu sehen. Ich bleibe dort drei Wochen, das wird total geil …“ Mir dämmerte langsam, dass ich es mit einem leicht retardierten jungen Mann zu tun hatte. Ich beglückwünschte ihn daher herzlich zu seinem guten Verhältnis zu seiner Familie, das ist ja selten geworden heutzutage, als mich sein seltsam versonnenes Grinsen zum Schweigen brachte: „Das sind ja nicht meine richtigen Eltern“, klärte er mich auf: „Ich habe sie übers Internet kennen gelernt, und in den nächsten drei Wochen werde ich ihr Kind sein“ – „Wie jetzt … Kind?“ – „Stimmt“, räumte er ein und zog zwinkernd ein bunt besticktes Sabberlätzchen unter seinem Pullover hervor: „Baby trifft’s besser!“

Dann erzählte er. Alles. Von seinem trostlosen Job als Aushilfe in einem Wilmersdorfer Kiosk. Von seiner seltsamen sexuellen Neigung, sich als Kleinkind zu verkleiden. Von der Erwachsenenwindel, die er immer unter der Bundfaltenhose trägt: „Jetzt auch, willste mal sehen?“

Ich wollte durchaus. Und als ich meinen Augen nicht traute, lächelte er selig und stöhnte: „Aaaaah, ich kann’s einfach laufen lassen!“ – „Beneidenswert“, sagte ich, „vor allem für Biertrinker“, und tatsächlich lief einfach alles raus aus ihm: „Früher habe ich mir immer Brennesseln in die Unterhose getan. Damit’s dort wund wird. Man wird nämlich wund, wenn die Windel nicht regelmäßig gewechselt wird. Es ist einfach nicht dasselbe, wenn du’s alleine machst“, denn das müssen schon die Eltern tun, die dürften auch streng sein, wenn er ein böser Junge gewesen ist, denn Mami und Papi sind ein gepflegtes Ehepaar („Er ist Frührentner, sie Lehrerin“) aus Hannover, das sich offenbar nichts sehnlicher wünscht, als einem saufenden Riesenbaby von 30 Jahren den Arsch abzuwischen, es mit Sex zu belohnen oder zu bestrafen, „mit Sex natürlich, wenn ich beim Rauchen auf dem Balkon erwischt werde“, worauf er sich ganz besonders freute, und ich konnte nicht anders, als mich mit ihm zu freuen.

Denn er war es, der an Weihnachten zu seiner Familie reiste, nach Hause. Nicht ich.

Fotohinweis: ARNO FRANK GESCHÖPFE Weihnachtsgefühle? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Bollwahn ROTKÄPPCHEN