Jenseits von Degeto

FERNSEHFILMVORSCHAU Von Kitsch bis Kinderarmut: Die ARD variiert 2010 leichte Stoffe mit ernsten Themen

Heftig, heftig, heftig: Menschenexperimente bei der Aidsforschung sind Thema in „Kennedys Hirn“

Stellen Sie sich vor, Sie haben einen kleinen Fahrradunfall und verlieben sich dabei in die Frau, die ihn verschuldet hat. Kann ja vorkommen. Was tun, wenn Sie die Dame für sich gewinnen wollen? Ganz einfach: zunächst mit einem Tandem bei ihr vorfahren und sie zur Stadtrundfahrt einladen, beim zweiten Besuch unten vor ihrem Haus „Only you“ singen und nach dem ersten Sex – sofern gerade Weihnachtszeit ist – den Satz sagen: „Wenn ich mal eine Familie habe, möchte ich einen richtig großen Weihnachtsbaum haben.“

Diese impliziten Ratschläge vermittelt jedenfalls „So ein Schlamassel“, ein Film der ARD-Produktionstochter Degeto, der Ende dieses Monats im Ersten läuft. „Wenn es die Degeto nicht gäbe, müsste man sie erfinden“, hat Volker Herres, Programmdirektor der ARD, in der vergangenen Woche gesagt, als der Senderverbund seine Spielfilmhöhepunkte des Jahres vorstellte – und man weiß nicht, ob er dabei an Filme wie diesen dachte. Die Art der Vorwärtsverteidigung hat allemal Tradition bei der jährlichen Filmvorschau. Stets nehmen die ARD-Oberen ihre von Journalisten gern gegeißelte Komödien- und Märchenmanufaktur ungefragt in Schutz, wobei der Hinweis, die Degeto beteilige sich auch an anspruchsvollen Projekten, nie unerwähnt bleiben darf.

Trotzdem: Auch 2010 wird die ARD wieder Millionen von Gebühren für Eskapismusprodukte made by Degeto ausgeben. In diesem Genre werden dann entweder eine „attraktive und selbstbewusste Kommunikationstrainerin“, „hübsche Marketingexpertin“, „erfolgsverwöhnte Managerin“ oder auch mal eine „erfolgreiche Steuerberaterin“ (das ist die, welche „Only you“ vorgesungen bekommt) hin- und hergerissen zwischen großem Unglück und riesengroßem Glück.

Aber keine Sorge, die ARD kann hin und wieder auch noch anders. So geht es in der Fiction des Jahres 2010 auch um Experimente mit Menschen bei der Entwicklung von Aids-Impfstoffen (in der zweiteiligen Verfilmung von Henning Mankells „Kennedys Hirn“). Am meisten versprechen zwei Filme aus dem Märzprogramm: „Keine Angst“ von der mehrfach mit Preisen ausgezeichneten Regisseurin Aelrun Goette (über Kinderarmut) sowie Niki Steins „Der Tote im Sund“ (zum Thema Scientology).

Die ambitionierteste Serie der letzten Jahre, Dominik Grafs „Im Angesicht des Verbrechens“ (mit Max Riemelt und Marie Bäumer, Foto), läuft im Ersten freitags um 21.45 Uhr, wo sonst „Tatort“-Wiederholungen platziert sind. Dem Prestigeprojekt, dessen Fertigstellung lange auf sich warten ließ, unter anderem, weil zwischendurch die Produktionsfirma pleiteging, wird eine international konkurrenzfähige Krimi-Ästhetik nachgesagt.

Einstellen müssen wird sich der Zuschauer 2010 auch auf viele jahrestagsbedingten PR-Offensiven. Schließlich erreicht die ARD in diesem Jahr das Vorruhestandsalter (60). Außerdem werden die „Lindenstraße“ 25 und der „Tatort“ 40. Wenn man bedenkt, dass die ARD bereits andere Jubiläen rund um die Krimireihe hochgejazzt hat – ihre 35-jährige Existenz sowie die 500. beziehungsweise 700. Folge –, ist in letzterem Fall wohl mit einem besonderen Spektakel zu rechnen. RENÉ MARTENS