WENN PADDELN EIN GEMEINSCHAFTSGEFÜHL SCHAFFT UND ALLES ANDERE VERGESSEN LÄSST
: Selbstversuch im Drachenboot

Nebensachen aus Washington

VON DOROTHEA HAHN

Beim Samstagsfrühstück hallen die lauten Kommandos regelmäßig von dem Kanal in meine Wohnung hoch. „70 Prozent!“, schreit einer. Und: „Volle Power jetzt!“ Dazu ziehen 20 Menschen im selben Rhythmus ihre Paddel durch das Wasser. Der Eindruck ist: Tausendfüßler. Oder – wenn das Boot schneller wird – römische Galeere.

Das Ganze sieht extrem diszipliniert aus. Es passt in diese Stadt, in der alles um Leistung, Stärke und Erfolg kreist. Und in der Soldaten in Uniform und Menschen, denen Dienstausweise um den Hals baumeln, das Straßenbild bestimmen. Irgendwann will ich mehr wissen und steige selbst in ein Drachenboot. Nur zum Ausprobieren. Wieso sollte ich mich anschreien lassen? Im selben Rhythmus wie andere atmen, Arme und Körper bewegen und trinken? Wieso Leistungsdruck akzeptieren?

Kaum sitze ich auf der Bank, ändert sich alles. Der Paddelschlag der Frau vorne, die Kommandos des Coachs hinten und das Wasser neben mir, das ich mit dem Paddel bearbeite, rücken ins Zentrum. Sogar die Kulisse des Pentagons auf der einen Seite des Wassers und des Kapitols auf der anderen verschwinden aus meinem Blickfeld.

Während im vergangenen Jahr an Land nichts anderes war als Präsidentschaftswahlkampf, konzentrieren wir uns darauf, zu paddeln. Auch jetzt wieder, wo die Regierung in allen Verwaltungen Ausgaben streicht. Als es im Winter kalt wird, empfiehlt unser Coach: „Kleidet euch wie die Rote Armee vor Moskau: viele Schichten“. Er ist in Vietnam zur Welt gekommen.

Wir sind in Washington. Natürlich sitzen die ortsüblichen Anwälte, Contractors und Consultants mit im Boot. Aber neben ihnen paddeln Studenten, Arbeiter, Handwerker und Rentner mit. Fast alle Altersgruppen und Hautfarben sind vertreten. Wir haben die lustigsten ausländischen Akzente an Bord. Und die unerschiedlichsten sportlichen Ambitionen. Manche Paddler trainieren für eine Nationalmannschaft. Andere halten Wettkämpfe für Adrenalinverschwendung. Wir sind ein Melting Boat.

An diesem Wochenende hat Washington das jährliche Cherry-Blossom-Festival gefeiert. Die Kirschbäume fange gerade an zu blühen. Aber wir haben Hunderte Neugierige zu Ausflügen mit aufs Wasser genommen. Ich habe Schwimmwesten und Paddel ausgeteilt. Und habe von „wir“ geredet. Erst am Schluss fällt mir auf, wie schnell das gegangen ist. Und dass auf dem Ärmel meines Vereins-T-Shirts ein kleines US-Fähnchen aufgedruckt ist.