piwik no script img

Archiv-Artikel

Eine der drei Hildes muss die edle Spenderin sein

Drei Frauen. Alle drei heißen Hilde. Sie lachen von Plakaten in Zeitschriften oder einem Foto auf Bahnfahrplänen herab. Darüber steht: „Hilde hat gehandelt“. Welche der drei handelte, wird nicht erwähnt. Eine bedachte in ihrem Testament einen Naturschutzverband. Aber welche?

„Wir Deutsche waren gefragt in englischen Haushalten“

VON WALTRAUD SCHWAB

Im Wohnzimmer von Hilde Hundt sitzen drei Frauen um einen Tisch. Er ist die unbespielte Bühne, nichts als eine Decke liegt darauf. „Fragen Sie uns“, sagt eine der Protagonistinnen.

„Mich fragen Sie besser nicht“, wehrt Hundt, die Älteste, jedoch sogleich ab. Sie sei ganz angestrengt, nicht mehr ganz klar im Kopf, gestern bis in die Puppen aus dem Haus gewesen.

„Komm Hilde, jetzt biste da, jetzt kannste auch was sagen“, sagt die Jüngste der drei. „Wissen Sie, ich bin schon 84 Jahre alt“, gibt die alte Dame zu bedenken. „Leben spiegeln die Zeit“

Es dauert, bis der tragende Einwand zu ihrem Alter verdaut ist. Da hilft nur eine Frage: Und Sie haben immer in Berlin gelebt, sind Berlinerin? Die Frage nach der Berlinerin ist eine Falle. Jede, die hier geboren ist, tappt hinein, denn Berlinerinnen lieben ihre Stadt wie keine andere. „Ja sicher, und seit 61 Jahren wohne ich in dieser Wohnung.“ Sie liegt in einem Gartenhaus am Kurfürstendamm. „Da haben Sie allerhand mitgemacht.“

Berlinerinnen in ihrem Alter haben meist allerhand erlebt. Diese hier hat mit vier Jahren zu tanzen angefangen. Mit 84 Jahren posierte sie noch einmal für „Leben spiegeln die Zeit“, ein Werbeplakat. Dazwischen erlebte sie 80 Jahre: Weimarer Republik, Faschismus, Krieg, 300 Bombennächte, tausendjähriges Reich mit tausendfachem Tod, Befreiung, Mauerbau, Wiedervereinigung, zwei verstorbene Ehemänner, zwei Kinder. Einzige Konstante: der Kurfürstendamm.

Auf dem Werbeplakat, für das sie und die beiden anderen Frauen, die nun am Tisch sitzen, vor kurzem posierten, steht: „Hilde hat gehandelt“. Weil alle drei Frauen Hilde heißen, ist das Plakat ein Rätsel. Denn es verrät nicht, welche der drei gehandelt hat, und die Protagonistinnen haben strengstes Stillschweigen vereinbart. Nur was die eine der Hilden gemacht hat, das ist klar. Sie hat den Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) in ihrem Testament bedacht. Die drei schwören Stein und Bein, dass dies die Wahrheit sei.

Um das Gespräch ins Laufen zu bringen, spinnt Hilde Schnitzler, die jüngste Hilde, am Lebensfaden von Hilde Hundt, der ältesten, weiter: „Und Tänzerin war sie im Admiralspalast.“

Tänzerin? Admiralspalast? „Zeig doch dein Fotoalbum“, rät die junge Hilde. Sie ist die Nachbarin der alten Namensvetterin. Ein bisschen kennen sich die beiden im Leben der jeweils anderen aus.

Fotoalbum? Da wird Hilde Hundt lebendig, steht auf, holt es und legt es auf den Tisch. Die ersten Bilder zeigen das kleine Mädchen, wie es im Spagat lächelnd vor der Kamera posiert. „Tanzen ist immer ’ne Quälerei“, kommentiert Hundt, als sähe sie, wie die Dehnung der Beine den Mund im Gesicht auseinander reißt. Ihre Mutter wollte es so. Weil diese selbst nicht Tänzerin werden konnte, musste die Tochter ran. Kaum Teenager, ist Hundt schon ein Star. Auch für Magazine hat sie posiert. Da habe man ja gutes Geld für gekriegt. Sie zeigt einige Hefte, deren Titelblätter verloren gegangen sind. Wann sie gemacht wurden, ist nicht zu erkennen. Es muss nach 1933 gewesen sein, denn eine Zwölfjährige lächelt nicht vom Bild. Barbusige Schönheiten gab es in dem Heftchen auch. „Beauties“ wurden sie genannt. „Da hat man noch mehr Geld für gekriegt.“ Aber Hundt durfte nicht. Ihre Mutter hat ihr Einverständnis verweigert. Ganz chronologiesicher ist Hundt nicht mehr. So viel allerdings ist klar: Mit 18 heiratet sie und ein Jahr später ist sie Mutter. Deshalb habe sie nicht mehr tanzen können. „Im Krieg hat Goebbels dann die Theater geschlossen“, meint sie. Die Tänzerinnen mussten in die Fabriken. Sie selbst habe 1943 einen zweiten Sohn bekommen. „Mit zwei Kindern hat Hitler uns von der Fabrikarbeit freigestellt.“ Ihr Mann starb kurz danach. Zum Nachdenken sei man nicht mehr gekommen. Nach dem Krieg tanzte Hundt für die Engländer, die Russen, wie’s gerade kam.

Weil sie nicht wusste, wie sie ihre Kinder durchbringen soll, geht sie 1947 als Hausmädchen nach England. „Wir Deutsche waren sehr gefragt im Haushalt“, erinnert sie sich. „Aber wenn Besuch kam, durften wir kein Deutsch sprechen.“ 1949, zurück in Berlin, wird sie Vorführdame, später macht sie die Endkontrolle. Was das ist? „Da mussten wir am Tag manchmal 600 Mäntel in der Firma probieren und gucken, ob alles sitzt.“

Die alten Tänzerinnen vom Admiralspalast treffen sich noch immer einmal im Monat. „Vor 20 Jahren waren wir 46. Jetzt sind wir noch 8.“ Hilde Hundt schließt das Album und trägt es weg. „Mehr ist nicht. Das ist mein Leben.“ Der Papagei hinter dem Tisch kommentiert es krächzend.

Jetzt ergreift Hilde Gerloff das Wort und gibt es nicht mehr her. Auch sie ist in Berlin geboren. 1934 war’s. Sechs Jahre später wird sie mit der Kinderlandverschickung nach Bayern verfrachtet und landet bei Bauern. Gut hat sie es bei ihnen. Das Ehepaar will das Mädchen adoptieren, die Mutter jedoch holt sie 1944 wieder ab, weil Gerloff in Landsberg auf die Oberschule soll. Zu spät. Schon bald beginnt die Flucht aus dem Osten. So fängt es an, dass Gerloff sich die ganze Welt vorstellen kann als Zuhause. Von den Wirren des Krieges bleibt ihr am Ende vor allem ein immer wiederkehrender Albtraum, in dem sie erschossen wird.

Ihre Jugendjahre verbringt Gerloff in Braunschweig. Sie macht die Handelsschule, lernt Sprachen, hat Fernweh und geht 1955 als Au-pair nach Paris. Wie Hilde Hundt bringt auch sie nichts als sich mit ins Ausland. Sie auf der einen Seite, auf der anderen tiefe Ressentiments gegen alles Deutsche. Hundt hat es hingenommen, Gerloff geht einen Schritt weiter, öffnet sich, lernt Menschen kennen, die verfolgt wurden, weil sie politisch waren, weil sie Juden waren oder Homosexuelle oder Demokraten. „Die haben mir ihre Nummern auf den Armen gezeigt.“

Es war nicht schwer, damals Arbeit zu finden, meint Gerloff. Nach der Zeit als Au-pair wird sie Sekretärin beim Künstleragenten des American Ballet Theatre in Paris, später arbeitet sie in einem Musikverlag in der französischen Metropole, dann probiert sie sich mal in Brüssel aus bei der EWG; der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, dem Vorläufer der EU. Auch bei der Allianz in München arbeitet sie, aber München ist ihr zu eng. Auswandern nach Kanada steht auf dem Plan. 1965 ist es dann doch wieder Paris. Ein Goethe-Institut wird aufgebaut. Sie ist dabei und bleibt es bis zu ihrer Pensionierung vor fünf Jahren. Sie organisierte Kolloquien, Ausstellungen, arbeitete mit Künstlern zusammen und erarbeitet sich die deutsche Geschichte. „Wir wollten ein bescheidenes neues Deutschland zeigen. Wir haben klein angefangen und waren am Ende die Größten. Ich fand das immer komisch, dass wir Deutschen die Besten sein wollten.“

Sie selbst wird von den Aufbrüchen der 68er in Paris politisiert, macht mit 35 das Abitur nach, fängt mit 40 an, neben ihrer Arbeit Germanistik zu studieren. „Erkenntnisneugier“, sagt sie. Geheiratet hat sie nie, wohl aber die halbe Welt bereist. Indien, Japan, Italien, Südamerika, der Nahe Osten, Kanada,China – viel hat sie gesehen. „Reisen bereichert.“ Ihre Kleidung und ihr Schmuck spiegeln die Inspirationen von überallher. „Wenn ich jetzt noch den Geruch, die Wärme, die Musik festhalten könnte.“ Dass ihr das Flüchtige wichtig ist, mag etwas mit einer anderen Erkenntnis zu tun haben: „Wir sind eine entwurzelte Generation.“

In den Neunzigerjahren merkt Gerloff, dass sie kaum eine Gelegenheit auslässt, nach Berlin, in ihre Geburtsstadt, zu reisen. Bei ihren Aufenthalten lernt sie Hilde Schnitzler, die jüngste der drei Hilden, kennen. „Ich fühle mich so wohl hier. Ich freue mich so, dass ich mich wohl fühle.“ Bald will sie nach Berlin ziehen. Einstweilen lebt sie noch in Paris.

Noch immer steht auf dem Tisch im Wohnzimmer von Hilde Hundt, der Ältesten, nichts. Die Bühne ist leer. Da geht Hilde Schnitzler, die Jüngste, und holt eine Flasche Wasser und Gläser. „Jetzt bin ich dran“, sagt sie.

Diese Hilde ist nicht in Berlin, sondern 1948 im Ruhrgebiet geboren. In Datteln, das man sich nicht „ruhrgebieterischer“ vorstellen könne. „Hinterm backsteinernen Reihenhaus die Teppichstange, der Ascheimer, die Tauben.“ Ihr Vater sei ein intelligenter Alkoholiker gewesen mit Hang zum Pausenclown. Sie selbst nennt sich „faule Socke“. Mit 13 fliegt sie vom Gymnasium. „Wer nicht lernen will, muss arbeiten“, sagt ihre Mutter und meldet sie zu einer Verkäuferlehre an. „Es war grauenhaft. Tagsüber war ich erwachsen, in meiner Freizeit Kind.“ Später lässt sie sich zur Sekretärin weiterbilden und sucht sich, da ist sie 21, eine eigene Wohnung am Ort. Als ruchbar wird, dass ihr Freund ein- und ausgeht, wird ihr gekündigt. „Das war doch alles so verklemmt Ende der 60er-Jahre.“ Aus Protest habe sie ihn geheiratet. Ihr Mann sei, wie ihr Vater, Alkoholiker gewesen. Als der 1972 vor der Bundeswehr abhaut nach Berlin, geht sie mit. Bald danach trennen sie sich. Da hat sie zum ersten Mal gemerkt, dass sie nicht ihr Leben lebt.

„Plötzlich die Frage: Und wer bin ich?“ Sie möchte das Abitur nachmachen. Beim Schulsenat will man sie nicht lassen, sie habe überhaupt keinen Abschluss. Da fängt sie eben von vorne an: Hauptschule, dann Realschule, dann Abitur am Berlin-Kolleg. „Dort fing meine politische Menschwerdung an“, meint sie. 1979 war’s. Später studiert sie, jobbt in Tonstudios, in denen Nina Hagen und Tina Turner aufgenommen werden, gibt nach dem Examen bei einem Bildungsträger Kommunikationskurse und lernt dabei einen Bestatter kennen, der später beim BUND für das Testamentprogramm zuständig ist. „Zusammenhänge sind manchmal sehr simpel“, meint Schnitzler.

„Tod – das Thema fasziniert mich plötzlich.“ Irgendwo liest sie: „Viele Sterbende klagen darüber, dass sie ihre Möglichkeiten nicht ausgeschöpft haben.“ Der Satz habe sie geschockt. „So geht es dir auch, wenn du nicht sofort Kabarett machst“, mahnt sie sich. Seither arbeitet sie an ihrem Programm. Mal ist sie frivole Putzfrau, mal lustige Witwe. „Nee, watt war datt ’ne schöne Beerdigung.“ In ihren Rollen ist der Blick auf die Wirklichkeit nüchtern.

Die drei Hilden greifen nach den Wassergläsern und trinken. Stellen sie wieder auf den Tisch. Im Zimmer schwingen ihre Lebensberichte nach. Auch der Papagei ist verstummt. Die drei Frauen sind gerührt, denn so ausführlich hätten sie sich noch nie erzählen gehört. „Und dann all die Parallelen“, sagt eine. Welche? „Dass unsere Leben die Zeit spiegeln“, sagt Gerloff. „Dass wir unser Ding gemacht haben“, sagt Schnitzler. „Meistens ohne Männer.“ Hilde Hundt nickt. Alles ist gesagt. Die Hilden drängen zum Aufbruch. Beim Abschied zeigen sie noch einmal auf das Plakat, das im Flur hängt. „Hilde hat gehandelt“ steht darauf.