Barbara Bollwahn über Rotkäppchen
: Freche Mädchen werden erwachsen

Im Osten ging ich mit meiner Eigeninitiative baden. Im Westen wurde ich passiv und wartete. Es hat sich gelohnt

Es ist hinlänglich bekannt, warum die Chose im Osten nicht geklappt hat. Zu unflexibel, zu untolerant, zu eindimensional, zu verbohrt, zu langsam, zu wenig Eigeninitiative.

Einmal da wollte ich, dass wir die Nase ganz weit vorne haben. Es war 1986, als mir ein Chilene in Leipzig ein druckfrisches Buch in die Hand drückte, das er aus dem kapitalistischen Ausland mitgebracht hatte. Zärtlich strich ich über den Einband. Er fühlte sich nach weiter Welt an. Der Verfasser war kein Geringerer als der kolumbianische Autor Gabriel García Márquez, von dem ich als Spanischstudentin allerhand gelesen hatte. Dieser weltberühmte Autor also hatte in der Ichform eine Reportage über einen chilenischen Regisseur geschrieben, der nach zwölf Jahren im Exil unter abenteuerlichen Umständen eine Rückkehr gewagt hatte. „Miguel Littín. Clandestino en Chile“. Blitzschnell übersetzte ich „Miguel Littín. Heimlich in Chile“.

Von dem Mann hatte ich noch nie gehört. Aber Exilchilenen aus Leipzig klärten mich auf. Littín war unter Salvador Allende Mitglied der Unidad Popular und musste unter Pinochet sein Heimatland verlassen. Nachdem er sich einer Gesichtsoperation unterzogen hatte, kehrte er in seine Heimat zurück, wo ihn nicht einmal seine eigene Mutter erkannte, und drehte einen Dokumentarfilm über die Militärdiktatur. Nachdem ich das Buch gelesen hatte, war ich fest entschlossen, dieser spannenden Geschichte zu einer ostdeutschen Übersetzung zu verhelfen. Ich war überzeugt, auf offene Arme zu treffen, zumal der Stoff so ganz nach dem Geschmack der sozialistischen Führung war.

Alles, was ich brauchte, hatte ich zu Hause: eine elektrische Erika-Schreibmaschine. Ja, so was gab es in der DDR. Der Witz war, dass die Dinger zwar im Osten hergestellt, aber für paar Westmark exportiert wurden. Schwamm drüber, ich hatte eine. Auch die Wörterbücher waren von drüben. Oma Elfriede hatte mir aus einer West-Erbschaft das nötige Kleingeld spendiert.

Ganz frech und eigenmächtig machte ich mich an die Übersetzung des ersten Kapitels. Total euphorisch wurde ich beim Reclam Verlag vorstellig. Total desillusioniert ging ich wieder. Die Herren hatten mich nicht im Plan – da war auf die Schnelle nichts zu machen. Ich war sauer und der Westen hatte wieder einmal die Nase vorn. Kiepenheuer & Witsch aus Köln übersetzte das Buch etwas freier als ich. „Das Abenteuer des Miguel Littín. Illegal in Chile“. Für mich war damit das Kapitel Eigeninitiative erst einmal gestorben.

Im Westen hab ich mich dann wie ein typischer Ostler benommen: Arme verschränken und auf Staatskosten leben. Bis ich anfing zu schreiben und der Wunsch auftauchte, es doch einmal mit dem Verfassen eines ganzen Buches zu probieren. Doch ich war ein gebranntes Kind. Einfach so, ohne Auftrag, loslegen, nee, nicht mit mir. Ich wartete.

An einem drögen Montag im Sommer vergangenen Jahres klingelte das Telefon. Der Lektor eines Kinder- und Jugenbuchverlages aus Stuttgart hatte meine Nummer gewählt. Ich sage nur: Michael Ende und seine „Unendliche Geschichte“, Otfried Preußler und sein „Räuber Hotzenplotz“. „Können Sie sich vorstellen, einen Jugendroman für uns zu schreiben?“, fragte er. „Wissen Sie, wie lange ich auf so einen Anruf warte!?“ Den Vorwurf in meiner Stimme konnte er nicht verstehen. Egal. Stuttgart! Dorthin war Ernst Reclam nach 1945 übergesiedelt und hatte die Reclam Verlag GmbH gegründet. In der sowjetischen Besatzungszone war kein gutes Arbeiten mehr. Ich kann ein Lied davon singen.

Dann ging alles sehr schnell. Der Lektor kam nach Berlin, wir speisten vorzüglich und besprachen die Details. Es folgten Exposé, Probekapitel, Vertrag, Vorschuss. Das liebe ich am Kapitalismus: zielgerichtet, direkt, effizient. Auch die Werbung läuft wie geschmiert. Vor wenigen Tagen kam der Frühjahrskatalog heraus, in dem mein Roman angekündigt ist. Die Reihe, in der er erscheint, heißt „Ich bin ich“. Es geht um freche Mädchen, die erwachsen werden. Die Hauptfigur ist nach der Wende in Sachsen geboren und natürlich voller Eigeninitiative.

Fragen zur Eigeninitiative? kolumne@taz.deMORGEN: BarbaraDribbusch GERÜCHTE