Das verborgene Lieben

LESARTEN Heute Abend wird in der Akademie der Künste das letzte Buch von Ivan Nagel „Shakespeares Doppelspiel. Der Kaufmann von Venedig, neu gelesen“ vorgestellt. Anlass zur Wiederbegegnung mit einem Wissenschaftler aus Leidenschaft

Weniger im Blick ist Antonios Verschattung, das Ungesagte seiner Figur

„Jeder verliebt sich in Bassanio“, so beginnt ein Kapitel in Ivan Nagels Buch „Shakespeares Doppelspiel“, das heute in der Akademie der Künste vorgestellt wird. Mit dabei sind Nagels Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz, Thomas Sparr, Freund und Nachlassverwalter des vor einem Jahr gestorbenen Theaterwissenschaftlers, und der Schauspieler Hans-Michael Rehberg.

Ob Rehberg wohl aus dem „Loblied auf Bassanio“ lesen wird, zum Beispiel dies: „Bassanio will sein Glück machen, indem er jeden und jede, der oder die ihn liebt, glücklich macht. Es ist das Versagen derer, die ihn lieben, nicht ertragen zu können, dass er auch andere glücklich macht. Sie nennen ihren Anspruch auf Ausschließlichkeit ‚Moral‘, um nicht ‚Besitz‘ zu sagen. Glückskind sein bedeutet aber: in der Sphäre der Gunst, nicht der Moral und des Besitzes zu leben. Dass Bassanio dafür viel Geld braucht, macht ihm nichts aus. Er ist Adliger, er ist Parasit – nur kein arbeitsam strebender, hortender Bürger.“

Selten liest man ein nicht nur so leichtfüßiges und elegant tänzelndes, sondern zugleich auch wohlbegründetes Lob der Verschwendung wie in diesem Kapitel über eine Figur aus Shakespeares Drama „Der Kaufmann von Venedig“. Ivan Nagel schreibt mit der Detailkenntnis eines Historikers und Forschers, der mit detektivischer Akribie zusammengesucht hat, was über man über das Theater Shakespeares nur wissen kann. Vor allem aber schreibt er mit der Leidenschaft eines Liebhabers, der dem Dichter Shakespeare mit ebenso großer Liebe gegenüberzustehen scheint wie seinen Figuren. Und das ist es, womit er den Leser so bereitwillig stimmt, ihm immer wieder durch vier Jahrhunderte Gelehrsamkeit zu folgen, durch die unterschiedlichen Zeithorizonte der Rezeption des Stücks.

Indem Nagel über ein Drama redet, faltet er eine ganze Welt vor uns auf, mit ihren offenen und verborgenen Leidenschaften. Dabei dreht sich alles um seine These, dass „Der Kaufmann von Venedig“ zwei Stücke in einem enthalte, eine romantic comedy und ein Problemstück. In der einfach zu lesenden romantic comedy, vom Unternehmer Shakespeare für den größten Teil des Publikums geschrieben und gespielt, ist Shylock der gehasste Jude und Wucherer, Antonio ein guter Freund von Bassanio und Bassanio der Geliebte von Portia. In der Lesart aber, für die Nagel viele Belege im Text, aber auch in den politischen und kulturellen Verhältnissen findet, ist keiner der Akteure so eindeutig.

Shylocks Doppelgestalt ist dabei die bekannteste: Dass die Spottfigur auch die Geschichte der Verfolgung, von Stigmatisierung und Fremdheit zu thematisieren erlaubt, hat die Aufführungsgeschichte der Nachkriegszeit gezeigt. Weniger im Blick ist Antonios Verschattung, das Ungesagte seiner Figur, das unausgesprochene Begehren gegenüber dem Freund Bassanio.

Hier taucht Nagel tief in die Kulturgeschichte ein, setzt aus Dramen von Shakespeares Konkurrenten Christopher Marlowe und aus der Geschichte der englischen Könige Episoden parallel, in denen das öffentlich sichtbare homosexuelle Begehren mit Verachtung, Intrigen und schließlich Mord gestraft wurde. Auch davon erzähle „Der Kaufmann von Venedig“, so Nagels These, wenn auch nur den jeweils Gebildeten oder eben selbst von der Erfahrung eines verborgenen Lebens Sensibilisierten.

Noch im Krankenhaus, in den letzten Monaten seines Lebens, habe Ivan Nagel an diesem Buch gearbeitet, das seine jahrzehntelange Beschäftigung mit Shakespeare noch einmal bündelt, schreibt Thomas Sparr in einer editorischen Notiz. Selten wird ein einziges Drama auf mehr als 300 Seiten so klug und zugleich unterhaltsam zerlegt.

KATRIN BETTINA MÜLLER

■ Heute in der Akademie der Künste am Pariser Platz 20 Uhr