Alle Jahre wieder

Dass Weihnachten mit der Familie gefeiert wird, ist beschlossene Sache. Aber was tun, wenn die Familie schlafen geht und die alte Stammkneipe mit alten Freunden lockt? Hingehen? Immer noch?

VON MARTIN REICHERT

An Weihnachten „nach Hause“ zu fahren bedeutet eine Reise zu sich selbst anzutreten, eine Konfrontation mit der eigenen Herkunft und Vergangenheit. Am Heiligen Abend trifft man sich mit der Kernfamilie, spät am Abend jedoch mit der ehemaligen Peer Group: In jeder Kleinstadt, in jedem Dorf, in jeder Metropole gibt es Cafés, Kneipen oder Gaststätten, in denen „man“ sich nach der Mitternachtsmesse zusammenfindet, alte Freunde, Bekannte und KlassenkameradInnen wiedersieht.

So wie man in der Familie an Weihnachten wieder zum Kind wird, mit verstohlen leuchtenden Augen, wird man im Kreise der Peer Group wieder zum Pennäler. Plötzlich ist alles wieder da: Das Image, das man früher einmal hatte und unter Umständen längst abgelegt hat wie einen zu klein gewordenen Rollkragenpullover. Die Ängste, den Ansprüchen der anderen vielleicht nicht genügen zu können und ausgestoßen zu werden. Die in die Jahre gekommenen Träume und Wünsche von damals.

Bei Bier, Rot- und Apfelwein wird nun verglichen: mein Haus, mein Auto, meine Frau. Oder: mein Diplom, meine Doktorarbeit, mein Kind. Beweisen, dass man es zu etwas gebracht hat oder zumindest auf dem Weg dorthin ist, beweisen, dass man die Ansprüche von damals sehr wohl in der Lage gewesen ist einzulösen.

Natürlich geht es auch um Tratsch vom Feinsten: Wer hat geheiratet und wer ist schon wieder geschieden, wer ist nun doch schwul oder lesbisch, wer hat wie viele Kinder und wer hat immer noch keinen Abschluss? Johannes hat eine Glatze und Sybille ist ganz schön fett geworden. Immerhin noch besser als umgekehrt. Das große kuschelige Wiedersehen am späten Heiligen Abend kann schnell zu einem Bad im Haifischbecken werden – das wissen alle Beteiligten. Und gehen trotzdem hin.

Irgendwann jedoch dünnen die Treffen aus: Die Älteren bleiben weg, haben eigene Kernfamilien gegründet. Manchmal hat einfach das entsprechende Café in Bad Oyenhausen oder Treuenbrietzen dicht gemacht, die Infrastruktur ist ausgetrocknet. Manchmal haben die Heimfahrer auch einfach keine Lust mehr, konzentrieren sich lieber auf die älter gewordenen Eltern. Ganz einfach, weil sie nun ein eigenes Leben haben: Sie sind erwachsen geworden und wollen mit den pubertären Sandkastenspielen von anno dazumal nichts mehr zu tun haben.