Folklore-Archäologie

FOLK-FESTIVAL Die neunte Ausgabe der Folkbaltica widmet sich nächste Woche in der deutsch-dänischen Grenzregion unter anderem der Folkmusik in Polen. Eine eigenwillige Wiederbelebung von Traditionen gibt es dabei von der Warsaw Village Band zu hören

Rahmentrommeln und Drehleiern inmitten gescratchter Platten

VON ROBERT MATTHIES

Am Beginn stand eine lange musikalische Entdeckungsreise durch das eigene Land, das Studium alter Manuskripte und ausgiebige Erkundungen in abgelegenen ländlichen Regionen. Eine Suche nach den Spuren einer Tradition, von der nach einem halben Jahrhundert sozialistischer Kulturpolitik in Polen vor zwanzig Jahren nur noch die „ganz Alten“ wussten, erinnert sich der Musikjournalist und Betreiber des Plattenlabels Kamahuk, Włodzimierz Kleszcz.

Unter dem programmatischen Namen Kapela ze Wsi Warszawa – auf Deutsch: die Kapelle aus dem Dorf Warschau – war dessen Tochter Maja vor fünfzehn Jahren gemeinsam mit fünf jungen Mitstreiter_innen angetreten, der Entwurzelung ländlicher Kultur und Folklore entgegenzuwirken. Konservieren wollten die Warschauer Musikstudierenden die alten musikalischen Traditionen. Und zugleich mit ihren Melodien, Gesangstechniken und Instrumenten experimentieren, die fast vergessene Musik in die Gegenwart tragen und mit elektronischer oder avantgardistischer Musik kurzschließen.

„Bio-Techno“ oder „Hardcore-Folklore“ nennen die Folklore-Archäologen das Ergebnis ihrer Ethnomusikologie, zahlreiche längst verschwunden geglaubte Musiktraditionen haben sie dabei tatsächlich wiederbelebt. Rahmentrommeln und Drehleiern hört man da inmitten elektronischer Sirenen und gescratchter Platten. Die altpolnische Fidel Suka hat die heute als Warsaw Village Band längst auch internationale renommierte Band – 2004 gab es etwa den BBC Radio 3 Award for World Music als bester Newcomer – nach alten Vorlagen rekonstruieren lassen. Vor allem aber sticht die eigentümliche Gesangstechnik der drei Sängerinnen heraus: Der Biały śpiew, der „weiße Gesang“, ein melodieerzeugender Schreigesang mit lauter Kopfstimme, den einst die Hirten im Hochland der Tatra benutzt haben, um auch über weite Entfernungen gehört zu werden.

Hören kann man den ungewohnt klingenden Gesang nun auf vier Konzerten im Rahmen des Länderschwerpunktes Polen des neunten Folkbaltica-Festivals, das sich ab Mittwoch fünf Tage lang in Flensburg, dem dänischen Sønderburg und in der deutsch-dänischen Grenzregion mit über 40 Konzerten, Workshops, Vorträgen, Filmvorführungen und einer Ausstellung dem Folk rund um die Ostsee widmet.

Hören kann man dabei auch einen der Lehrmeister der jungen Warschauer. Der Geiger Jan Gaca spielt schon sein ganzes Leben eine zentrale Rolle in der traditionellen Musikszene um die Stadt Radom, musiziert auf Festen und zu offiziellen Anlässen und gilt als Inspirationsquelle nahezu aller gegenwärtiger Folkmusik in Polen, wie die langjährige Leiterin der Volksmusikabteilung von Polskie Radio Maria Baliszewska erzählt. Niemand habe den wiegenden Takt der Mazurka so verinnerlicht wie der 80-Jährige.

Zu entdecken gibt es nächste Woche dabei natürlich nicht nur die polnische Folkmusik. Zwei weitere Leitfäden hat der neue künstlerische Leiter des Festivals, der dänische Geiger, Komponist und 12-fache Danish-Music-Award-Gewinner Harald Haugaard, durch das Programm gelegt: Die Trompete als Ausdruck einer besonderen Blechbläsertradition in Schleswig-Holstein, ein Relikt der Kriege des 19. Jahrhunderts. Und, das habe sich „eingeschlichen“: die Maskulinität. Nicht als Verweis auf Aggression und Gewalt, sondern als Auseinandersetzung mit dem „enorme[n] kreative[n] Potential, das in Männern steckt“.

■ Flensburg, Sønderborg und deutsch-dänische Grenzregion: Mi, 17. 4. bis So, 21. 4., Infos und Programm: www.folkbaltica.de