Wenige und sehr viele Töne

Den Minimalismus scheinen US-Amerikaner wie Steve Reich, Terry Riley oder Philip Glass für sich gepachtet zu haben. Der Brite Michael Nyman ist durch seine Filmmusiken für den Regisseur Peter Greenaway ebenfalls einigermaßen bekannt. Bei Minimalisten aus Deutschland wird die Sache jedoch schnell übersichtlich.

Dass es mit Ernstalbrecht Stiebler sogar einen gebürtigen Berliner unter den Minimalisten gibt, war einer größeren Öffentlichkeit bis vor Kurzem verborgen geblieben. Und obwohl Stiebler im nächsten Jahr seinen 80. Geburtstag feiert, lassen sich seine Plattenveröffentlichungen an einer Hand abzählen. Dass sich das Berliner Label m=minimal seines Werks annimmt und mit „Ton in Ton“ jetzt die zweite Stiebler-Platte veröffentlicht, ist daher umso verdienstvoller.

Die titelgebende Komposition ist eine neuere Arbeit für Ensemble, eingespielt von den Avantgarde-Experten des Ensemble Modern. Stieblers Strategien lassen sich an dem Stück sehr gut ablesen: Statt schneller repetitiver Patterns, wie sie unter vielen seiner Kollegen beliebt sind, dominieren lange Liegetöne, die sich kaum von der Stelle zu bewegen scheinen, aber kontinuierlich ihr Gefüge und ihren Klang verändern. Auch die Orgelstücke „Torsi“ und „Betonungen“ kommen mit einem Minimum an Noten aus, man könnte von einem „meditativen Reduktionismus sprechen“, der manchen heutigen Drone-Musiker recht ideenarm aussehen lässt.

Deutlich weniger reduziert geht der aus der Ukraine stammende Kanadier Lubomyr Melnyk vor. Seine „continuous piano music“ besteht aus arpeggienartigen Strukturen, die er in rasendem Tempo zu immer neuen Obertonballungen anschwellen lässt – eigenen Angaben nach ist Melnyk mit mehr als 19,5 gespielten Noten pro Sekunde der schnellste Pianist der Welt. Eigentlich ist er gar kein Minimalist, sondern ein Maximalist, der sich immerzu wiederholt.

Neben seiner Solo-Klaviermusik kollaboriert Melnyk mit Geistesverwandten wie dem 12-String-Gitarristen James Blackshaw. Für „Corollaries“ folgte Melnyk der Einladung des in Berlin lebenden Musikers Peter Broderick von der Band Efterklang, um gemeinsam eine Platte aufzunehmen. Mit verhaltenem Gesang und geruhsamen Geigentönen bildet Broderick ein Gegengewicht zu den Klangmassierungen des Klaviers. Das Ergebnis ist ekstatische Romantik, wie zu einem Laserstrahl gebündelt.

TIM CASPAR BOEHME

■ Ernstalbrecht Stiebler: „Ton in Ton“ (m=minimal/Kompakt) ■ Lubomyr Melnyk: „Corollaries“ (Erased Tapes/Indigo)