Jukebox - Der musikalische Aszendent

Musik mag man nur mit Zwangscharakter

Zum Anwärmen ein alter Taschenspielertrick. Schauen Sie nur gut zu, wie sich ein Wort zum nächsten fügt, und schon hat man den ersten Satz. Davon noch einige mehr aufs Papier geschmissen, bis daraus der Text entstanden ist, der nicht zuletzt seine Funktion darin hat, den Platz hier zu füllen. Jetzt ist man bereits mittendrin.

Ein Zweck muss sein. Das mit dem L’art pour l’art, der Kunst also um der Kunst willen, ist zwar ein schöner Slogan. Nur wirklich halten will sich niemand dran. Wenn man zum Beispiel einmal die Musik hernimmt: Die lässt sich im Einzelnen dann untergliedern in Wiegenlieder, Hochzeitstänze, Worksongs, Trinklieder, Bewegungsmusik, Kuschelrock und so weiter. Man hat eine Tätigkeit (und sei es auch nur das Füßehochlegen), und man hat die passende Musik dazu. Sie ist Stimmungsverstärker, Sättigungsbeilage. Überall Funktionsmusiken.

Hinter diesem Zwangscharakter steckt natürlich unsere Kleinmütigkeit. Denn mit der Funktion bestrafen wir die Musik, die ihrem Wesen nach eigentlich abstrakt ist. Die von Zwängen freieste aller Künste.

Sie muss nicht wohnlich sein wie die Architektur, und sie versuchte nie die sichtbare Welt zu äffen, wie das die bildende Kunst durch die vielen Jahrhunderte machte. Sie ist frei, und so was hält natürlich kein Mensch aus. Weswegen die Musik gefesselt werden muss, eingebunden in die Zusammenhänge, in denen wir unser Leben verrichten. Wer hört denn Musik schon wirklich wegen der Musik?

Aus diesem Grund haben Weihnachtsplatten eine eher kurze Haltbarkeit und sind bereits spätestens zum Dreikönigstag aus den Regalen und Hitparaden geräumt. Nur einzelnen Titeln ist wenigstens eine hohe Wiederverwendbarkeit gegönnt („Stille Nacht“, „Happy Xmas [War Is Over]“). Sie werden beim nächsten Durchlauf dieser Saisonmusik noch einmal hervorgeholt. Wobei im jahreszeitlichen Zyklus musikalisch betrachtet noch Lücken klaffen: Der Frühlingsschlager zum Beispiel ist sogar dem allwissenden Google vollkommen unbekannt, während der Sommerhit natürlich bereits auf seinen Einsatz wartet (eine kleine Auswahl der Preisträger der vergangenen Jahre: 2004 O-Zone mit „Dragostea din tei“, 2002 Las Ketchup mit „The Ketchup Song“, 1987 Madonna mit „La isla bonita“). Sonne, trinkfeste Refrains, Badehose.

Schön wäre doch mal eine Weihnachtsplattenversion von Sommerhits. So als Funktionsübererfüllung. THOMAS MAUCH