Die an der Nadel hängen

Edeltanne oder dänischer Billigbaum? In der Stadt haben sich Weihnachtsbaummärkte ausgebreitet. Doch spätestens morgen Nachmittag droht der absolute Wertverfall. Ein Ortstermin in Kreuzberg

Der Kunde handelt 4 Euro runter, sein Mercedes kostet bestimmt 60.000

von ANDREAS BECKER

An der Börse gelten Warentermingeschäfte als besonders riskant. Wer einen bestimmten Stoff zu einem festgelegten Termin verkauft haben muss, steht unter Druck. Ob er mit Platin, Mais oder Weihnachtsbäumen handelt, ist dabei egal. Fast egal. Denn Weihnachtsbäume bringen den Nachteil mit sich, das sie am 24. Dezember einen absoluten Wertverfallstag haben.

Für die Berliner Weihnachtsbaumverkäufer kommt erschwerend eine brutale Konkurrenzsituation hinzu. Allein in Kreuzberg gibt es über ein halbes Dutzend Stände, rund um den Hermannplatz haben sich gleich drei Weihnachtsbaummärkte aufgebaut. Außerdem drücken die großen Ladenketten die Preise, ohne selbst Gewinn machen zu müssen – die Tannen, die hier für unter 10 Euro verscherbelt werden, dienen lediglich als Lockangebot. Der Weihnachtsbaumendverbraucher bekommt jedoch das Gefühl, dass eine am Straßenrand für 27 Euro offerierte Edeltanne viel zu teuer sei.

Und dann locken auch noch die Selbstabholer mit ihrem romantischen Flair des Selbstgehackten den motorisierten Großstädter hinaus ins Berliner Umland. Nichts doller, als den Kindern unterm Baum zu erzählen, wie man „den größten“ ausgewählt und heldenhaft die Säge geschwungen hat.

In Kreuzberg vorm Spreewaldbad an der Wiener Straße befindet sich eines dieser temporären, frisch duftenden Miniwäldchen, die jedes Jahr im Dezember aus dem Asphalt sprießen. „Weihnachtsbäume“ steht auf einem gelben Plastiktransparent. „Seit 1718“ kann man darunter weiterlesen, aber das gehört zum Plakat einer Feuerversicherung. Über den Bäumen baumelt eine Kette mit nackten Glühbirnen, ein großer Scheinwerfer erleuchtet die Fläche ab Nachmittags. Außerdem steht ein Wohnwagen in dem Wäldchen.

Hinten stapeln sich die Tannen, die noch nicht ausgepackt wurden. Das sind ziemlich viele. Hunderte. Frau Yilmaz holt gerade einen der sie überragenden Bäume aus dem Netz und zerrt ihn in einen der eben leer gewordenen Ständer. Celal Yilmaz steht neben der Maschine zum Einpacken der Tannen und fröstelt vor sich hin. „Alles gute Bäume. Wir haben nur beste Ware. Aber kaum Käufer.“ Hellgrüne Billigbäume aus dänischer Massenproduktion werden vom Ehepaar Yilmaz nicht verkauft, stattdessen haben sie sich auf gut gewachsene Edeltannen spezialisiert. Deshalb gibt es hier auch kaum etwas unter 20 Euro – Preise, die wohl sogar in Charlottenburg problematisch wären. Aber hier?

Hasi Yilmaz sitzt in dem Wohnwagen, da ist es wenigstens schön warm. Er macht uns einen Nescafé, bietet Kekse an und Mini-Kokosnuss-Schokoriegel. Hier am Tisch des Wohnwagens ist es recht gemütlich. Wenn nur die verdammten Bäume rundrum nicht schnell weniger werden müssten. „Wie viele sind denn schon verkauft?“ Die beiden wissen es nicht genau. „Vielleicht 150“, schätzt Frau Yilmaz. Das war Montag.

Herr Yilmaz bietet mir eine seiner Zigaretten an, ich gebe ihm eine von meinen. Schnell wird die Luft im Campingwagen rauchig. Ich schaue durch das blasse Kunststofffenster nach draußen auf die enorme Menge an eingerollten Tannen. „Wie viele sind denn das noch?“ – „Über 800.“ Als Frau Yilmaz die Zahl sagt, mag man ihr kaum in die Augen gucken, so besorgt wirkt sie. „Mein Sohn wollte in Friedrichshain einen Stand aufbauen. Aber das Tiefbauamt hat den Antrag nicht genehmigt“, erklärt Herr Yilmaz. Das Amt habe geschrieben, die besagte Fläche sei unbefestigt und deshalb ungeeignet. Antrag abgelehnt.

Direkt am Ostbahnhof hätte sich nun aber doch ein Verkäufer aufgestellt, obwohl da auch nur eine Wiese sei. Herr Yilmaz versteht das nicht. Vielleicht gehört die Fläche der Bahn, sage ich, die dürfen machen, was sie wollen.

Da das Geld nicht mehr für einen Zaun reichte, übernachtet das Ehepaar auf dem leuchtend blau bezogenen Bett in der Nische. Man weckt sich im dreistündigen Rhythmus zum Aufpassen. Einige Bäume wurden trotzdem schon geklaut oder ins Gebüsch geworfen.

Herr Yilmaz ist arbeitslos, Ende 50. In den letzten 30 Jahren hat er in allen möglichen Industriefirmen gearbeitet, „sogar für eine amerikanische“. Zuletzt war er in einem Krankenhaus beschäftigt, „da habe ich die Grundreinigung gemacht. Gute Arbeit.“

Seit den Siebzigern wohnen sie an der Skalitzer mit Blick auf die Hochbahn, haben vier erwachsene Kinder. Im Tannenbaumgeschäft sind sie seit Mitte der Neunziger. Letztes Jahr lief es auch schon nicht so gut, aber jetzt …? Kann man denn nicht weniger Bäume bestellen? Kann man schon. Nur hatten sie eben gedacht, mindestens die Hälfte im Osten zu verkaufen, bevor ihnen die Verwaltung einen Strich durch die Rechnung machte. Hier könne man nun vielleicht 400 Stück loswerden. Aber 1.000? Herr Yilmaz bietet noch eine Dunhill an. Das Geld für die Bäume habe man geliehen, „bei Kollegen“. Ein sprachliches Relikt des Westberliner Fabrikslangs. „Der Wohnwagen kostet über 600 Euro für die vier Wochen, und die Platzmiete wird noch höher sein. Und der Strom.“ So wie es jetzt aussieht, werden am Ende reichlich Bäume übrig bleiben. „Dann müssen wir auch noch einen Container von der BSR bestellen.“ Vom Markt zum Müll, das ist allerdings eine ganz und gar unweihnachtliche Vorstellung.

Endlich kommt ein Mann an den Stand und betätschelt die Tannen. Er ist der erste Kunde seit bestimmt 20 Minuten. Er prüft die Nadeln, Frau Yilmaz zieht den Kragen ihrer Jacke hoch, steigt aus dem Wohnwagen und spricht vorsichtig den Kunden an. Ein paar Minuten später sind sie miteinander im Geschäft. Herr Yilmaz hat inzwischen das Thema gewechselt und schimpft leise über dogmatische Leute, die sich Muslime nennen und anderen vorschreiben, was sie zu essen oder wie sie zu leben hätten, „steht alles nicht im Koran“.

Der Kunde draußen handelt 4 Euro runter, geht kurz weg und kommt mit einem schwarzen Mercedes mit offener Kofferraumklappe zurück, mit dem er einfach so in Yilmaz’ Wald fährt. Der Wagen kostet doch bestimmt 60.000 Euro, sage ich. Yilmaz zuckt kaum mit den Schultern. „Noch einen Kaffee?“ Vor vier Jahren habe er am Anhalter Bahnhof Tannen verkauft, erinnert sich Herr Yilmaz zum Schluss. Damals sei ein Morgenpost-Reporter wie von Allah geschickt aufgetaucht. „Danach kamen alle Kollegen und haben Bäume gekauft.“ Er schaut mich hoffnungsfroh an.