Ganz normal und doch besonders

taz-Serie „1980/1990 – besetzte Zeiten“ (Teil 7 und Schluss): Fabian wurde in der Bülowstraße in Schöneberg geboren. Nana wuchs in der Kreutzigerstraße in Friedrichshain auf. Zwei Kinder von Hausbesetzern, die inzwischen erwachsen sind, erzählen

Interview PLUTONIA PLARRE

taz: Nana und Fabian, ihr lebt beide in besetzten Häusern und seid dort groß geworden. Erzählt doch mal, wie bei euch das Abendessen abläuft.

Nana: In der Kreutzigerstraße 18 kochen immer zwei oder drei Leute zusammen. Wir leben in dem Haus in einer Großgruppe mit einer Gemeinschaftsküche für alle. Die Kinder decken den Tisch. Wenn alles fertig ist, ruft einer ins Treppenhaus: „Essen!“ Dann kommen alle angerannt und setzen sich an die riesige Tafel.

Fabian: Mit solchen Geschichten kann ich nicht aufwarten. In der Bülowstraße 52 gibt es zwar auch Leute, die in einer Großgruppe oder in Wohngemeinschaften leben. Aber es gibt auch viele Kleingruppen. Meine Eltern, meine 13-jährige Schwester und ich sind eine solche Kleingruppe. Bei uns geht es beim Essen ganz normal zu. Einer kauft ein, meistens meine Eltern, die kochen dann auch. Meine Schwester und ich helfen manchmal. Dann wird gegessen.

Nana: Was du erzählst, hört sich für mich gar nicht nach dem Leben in einem besetzten Haus an.

Fabian: Das hat sich so entwickelt. Dahinter stecken verschiedene Lebensauffassungen. Früher haben meine Eltern in der Bülow 52 auch in einer Wohngemeinschaft gelebt. Ich war eins der ersten Kinder, die dort geboren wurden. Als ich klein war, haben meine Eltern noch eine Weile mit einer anderen Familie zusammengewohnt, die einen Jungen in meinem Alter hatte. Aber zwischen seinen und meinen Eltern hat die Chemie nicht gestimmt.

Lag das an unterschiedlichen Erziehungsvorstellungen?

Fabian: Ich bin ein bisschen lockerer erzogen worden. Ich war eher wild und frei und durfte in dem Haus überall hingehen. Der andere Junge wurde eher konservativ erzogen, konnte schon mit vier die Uhr lesen. Wenn er in meinem Zimmer saß, hat er gesagt: Es ist schon fünf vor acht, ich muss ins Bett. Irgendwann kam es zum Bruch. Zuerst haben wir in der Wohnung eine zweite Küche und ein zweites Bad eingebaut. Zu guter Letzt wurde in die Wohnung eine Trennwand eingezogen. Seitdem sind wir Nachbarn.

Nana: Das klingt jetzt vielleicht komisch, aber ich würde sagen, wir in der Kreutziger 18 sind eine große Familie. Bei uns fühlen sich alle als Eltern für die Kinder zuständig.

Nervt das nicht furchtbar?

Nana: Ich hatte nie Probleme damit. Aber mein Bruder, der zwei Jahre jünger ist, leidet ziemlich darunter. Wenn man bei uns als Kind oder Jugendlicher im Gemeinschaftszimmer vor dem Fernseher sitzt, kann es vorkommen, dass man von fünf oder sechs Erwachsenen aufgefordert wird: Geh doch mal an die frische Luft! Das ist echt gemein. Aber es gibt auch Konflikte, bei denen man als Kind eher auf andere hört als auf die eigene Mutter oder den eigenen Vater. Gut finde ich auch, dass bei so vielen Leuten immer jemand zu Hause ist und die Kinder somit immer einen Ansprechpartner haben. Und man braucht nie einen Babysitter von auswärts.

Dass ständige Umgebensein von einer Gruppe ist dir nie auf den Geist gegangen?

Nana: Manchmal schon, aber da ging es eher um Kleinigkeiten. Zum Bespiel, wenn das letzte bisschen Milch im Kühlschrank unbedingt für den Kaffee am nächsten Morgen aufgehoben werden soll. Wieso eigentlich, frag’ ich mich da. Ich will doch auch nur Milch trinken. In solchen Momenten habe ich keinen Bock mehr auf das alles. Aber das geht meistens schnell vorbei. Anders war es, als ich noch in der Grundschule war. Da habe ich oft geleugnet, dass ich in so was wohne.

Was hast du deinen Klassenkameraden erzählt?

Nana: Ich hab’ einfach gesagt, ich wohne mit meiner Familie zusammen. Es war mir peinlich. Die anderen hatten alle schön ihre Wohnungen. Manche wohnten auch im Einfamilienhaus: Mama, Papa, Kind. Vielleicht auch noch ein Hund und eine Katze dazu. Ich war neidisch. Das war alles so anders als bei uns. So schön geordnet, sauber und aufgeräumt.

Fabian: Bei uns ist es auch nicht besonders geordnet und aufgeräumt. Bei uns fragen sich die Besucher immer, warum unsere Wohnung so komisch geschnitten ist und unser Treppenhaus so lustig aussieht. Dort haben wir zum Bespiel einen Autoscheinwerfer unter einem Fenster eingebaut. Aber geschämt habe ich mich deswegen nie.

Nana: Das ist der Unterschied zwischen Jungen und Mädchen. Meinen Bruder hat das auch nie interessiert. Heute finde ich das auch dumm. In meiner Oberschule in Charlottenburg finden es alle total interessant, wie ich wohne. Sie möchten mich unbedingt mal besuchen. Die können sich gar nicht vorstellen, dass man mit seinen Eltern in einer WG wohnen kann.

Was wisst ihr von den politischen Kämpfen, die zu Hausbesetzerzeiten geführt wurden?

Fabian: Ich kenne nur Fragmente. Dass der CDU-Senat Anfang der 80er-Jahre aus Prestigegründen möglichst viele Häuser räumen wollte. Im Internet habe ich gelesen, dass ein Besetzer von einem Bus überfahren worden ist. Als ich geboren wurde, war schon Ruhe.

Nana: Ich kann mich noch gut erinnern, wie der Abenteuerspielplatz neben unserem Haus geräumt wurde, weil auf dem Gelände ein Neubau errichtet werden sollte. Ich war damals vielleicht acht Jahre alt. Aus der Umgebung sind ganz viele Kinder zusammengekommen und haben demonstriert. Später ist unser Haus durchsucht worden. Dabei haben die Polizisten die Reifen von meinem Fahrrad zerstochen. Danach habe ich die Bullen noch mehr gehasst.

Fabian: Einmal, als Ronald Reagan da war, hat einer aus unserem Haus ein Plakat mit der Aufschrift rausgehängt: USA, SA, SS. Da sind die Bullen wegen Beleidigung eines Staatsgastes gekommen.

Ihr sagt ‚Bullen‘. Warum?

Fabian: So sagt man in Berlin.

Nana: Nee, nee. Wenn ich in meiner Schule Bullen sage, heißt es: Wat meinste? Bei mir liegt das an der krassen Ablehnung.

Fabian: Jedes Mal wenn die eine Demo verhindern, hat man Ärger mit denen.

Wogegen oder wofür gehst du demonstrieren?

Fabian: Gegen den Zapfenstreich. Für den Palast der Republik. Gegen Naziaufmärsche – halt solche Themen. Letztens bin ich auch nach Halbe gefahren.

Glaubt ihr, dass ihr anders seid als junge Leute, die nicht in einem besetzen Haus groß geworden sind?

Nana: Ich kann gut Streit schlichten, und ich habe immer alles geteilt. Meine Klamotten, meine Spielsachen, mein Essen, meine Süßigkeiten. Ich kenne viele, die das nicht machen. Außerdem glaube ich, dass ich Menschen gut einschätzen kann.

Fabian: Meine Eltern haben mich auch nicht zum Egoisten erzogen. Aber ich hatte immer ein eigenes Zimmer und eigene Spielsachen.

Vorausgesetzt, ihr hättet in eurem Haus freie Hand: Was würdet ihr verändern?

Nana: Bei uns gibt es Pläne, eine zweite Küche einzurichten. Das würde ich versuchen zu verhindern. Ich habe Angst, dass eine zweite Küche zur Aufsplitterung in Kleingruppen führt.

Fabian: Ich würde bei uns im Haus die Regel aufstellen, dass nicht mehr als 45 Quadratmeter pro Kopf beansprucht werden dürfen. Das klingt vielleicht spießig. Bei uns gibt es aber die Regel, dass bei Auszügen die übrigen Bewohner einer Etage über die frei gewordenen Zimmer bestimmen. Das Resultat ist, dass immer weniger Leute immer mehr Platz beanspruchen. Schön würde ich auch finden, wenn der Zusammenhalt unter den Bewohnern verschiedener Aufgänge größer wäre. Ich vergleiche das Wohnen bei uns immer mit der EU. Die Länder machen ihre Projekte zusammen, die im Kern ganz gut sind. Aber trotzdem guckt jeder, wo er selbst bleibt.

Was genau meinst du mit Projekten?

Fabian: Alles, was mit der Selbstverwaltung des Hauses zu tun hat. Wir bestimmen, wie das Treppenhaus aussieht und wie hoch die Bäume in unserem Hof wachsen. Wir haben eine zentrale Anlage für die Warmwasserbereitung, die effektiv und ökologisch ist. Und Leute von uns organisieren einmal im Jahr ein großes Sommerfest, das relativ offen ist. Dort gibt es Getränke gegen Spende. Das finde ich cool. Insgesamt ist Schöneberg aber schon eine andere Welt als Friedrichshain. Die Besetzer in Schöneberg sind einfach zehn Jahre älter. In den Häusern im Osten ist kulturell viel mehr los.

Ihr seid beide in einem Alter, in dem man von zu Hause auszieht. Habt ihr solche Pläne?

Nana: Zu Hause ist das, was Mami aufgebaut hat. Irgendwann will ich mit meinem Freund und einem Kumpel mein eigenes Ding machen. Am liebsten würde ich ins Grüne, wo man Hunde halten kann. Mein Freund wohnt in Dahlem, aber das ist wohl unbezahlbar. Im Moment will ich aber noch nicht von meiner Mami und all den anderen Leuten weg.

Fabian: Ich habe eines der schönsten Zimmer in der Bülow 52. Auch sonst fühle ich mich zu Hause eigentlich ganz wohl. Aber das ist halt so ein gemachtes Nest. Spätestens wenn ich studiere, will ich ausziehen. Auf jeden Fall in eine Wohngemeinschaft, vielleicht in Friedrichshain, jedenfalls in einem lebendigen Stadtteil. In einer WG zu wohnen ist ja auch politisch. Man lebt einfach nicht so verschwenderisch, wenn man sich zu fünft ein Bad teilt.