Mit ganz lieben Grüßen

Haben Sie schon alle Weihnachtskarten verschickt? Nein? Dann wird es aber höchste Zeit.Lesen Sie jedoch zuerst unsere tollen Kreativtipps und die ultimative Rechtfertigung für Schreibfaule

VON JAN FEDDERSEN

Gestern Abend am Briefkasten. Reklame, eine Rechnung – und vier Sendungen mit deutlich weihnachtlichem Inhalt. Drei davon Freunde entfernterer Art, eine von einem Verlag. Jedes Jahr das Gleiche, nur das Personal ändert sich leicht. Man sieht sofort: Gottogott, zwei jener Freunde (Frank, Cornelia) hatte man selbst keine Weihnachtskarte geschickt – wie würde man denen je wieder gegenübertreten können. Schnell das Notreservoir geöffnet, nötigenfalls, nicht wahr, nimmt man eines der mundgemalten Exemplare aus der Behindertenwerkstätten, die man auf dem Weihnachtsmarkt erworben hat.

Ein Arsenal für die Not

Die müssen auch eine bekommen, auf die Schnelle, gute Grüße, frohe Weihnachten, guten Rutsch außerdem und überhaupt – das Leben ist eines voller brieflicher Wünsche, vor allem zu den winterlichen Festtagen.

Man kennt sich ja. Im letzten Dezember, in der Zeit, die man „zwischen den Jahren“ nennt, kamen einen Tag vor Silvester elf Weihnachtspostkarten ins Haus. Und man dechiffrierte sofort: Ja, ja, all die Beschämten. Denen man termingetreu, Posteingang: spätestens Heiligabend, ein Kärtchen schickte – von denen wiederum sich keines fand bis zum 24. Dezember. Und die dann panisch („Ach, den hatte ich vergessen, aber ich hätte an ihn oder sie ja wirklich mal denken sollen“) selbst noch am 27. Dezember in den Kartenshop, in die Drogerie oder Galerie (je nach Klassen- und Kulturlage) eilen, um noch schnell einen Gruß zu schreiben. Wer das hurtig hinbekommt, kann hinterher immer noch glaubwürdig sagen: „Die hatte ich längst vor Weihnachten abgeschickt, aber man weiß ja, vor dem Fest, der Postweg …“

Woher man das weiß? Alles selbst erlebt, erlitten und erfahren. Der entfernte Freund, die herzergreifende Affäre von vorvorigem Sommer, die einen noch im Herzen tragen – wie ein leichter, süßer Kummer, der nie zum Happy End kommen durfte: anhängliche Seelen, die man kaltschnäuzig aus den eigenen Charts der Nächsten und Nahesten geworfen hat. Nein, dann hat man Mitleid und Selbstmitleid und muss eben auch noch schnell die innere Notlüge entwerfen, man habe ja ernsthaft verfassen und abschicken wollen, genau diese Weihnachtskarte, aber die Umstände … die zwangen einen, leider erst am zweiten Weihnachtstag ein Kärtchen loszuschicken, ein witziges gar, weihnachtsironisch verstehbar: eine Sommerszene, eine im jüngsten Urlaub gekaufte, nie geschriebene Karte aus, sagen wir, Sizilien, von den Malediven oder der Kurischen Nehrung.

Schlechtes Gewissen

Das macht, glaubt man, echte Laune. Malt man vorn auf die Karten mit Tipp-Ex-Flüssigkeit noch einige Pünktchen, wird es plötzlich sogar echte Kunst. Das Signal: Hey, weißt du, meine Karte kommt spät, aber ich hab mir echt Mühe gegeben.

Weihnachtskarten zu schreiben läuft im Grunde Jahr für Jahr auf wachsende Nötigung hinaus. Einerseits möchte man ja selbst Erinnerungspost und Wohlfühlwünschpost in Hülle und Fülle bekommen. Merken, dass man nicht vergessen wurde. Andererseits wird das eigene Netzwerk der Kontakte und Freundschaften – wo hören Erstere auf und fangen Zweitere an? – immer ausufernder und dichter zugleich. Muss man auf die freundliche Post des Weinhändlers antworten? Wie teuer (oder: ach, das zum Fest undenkbare Wort: billig) darf eine Weihnachtskarte für wen und welchen Freundschaftsgrad sein? Klar, vorgestanzte Grüße sind verpönt, Handschriftliches zwingend. Aber muss jede Karte in ein Kuvert gesteckt werden – oder reicht die blanke Karte, so wie die aus den Ferien?

Ungewissheiten, menschlich, verwandtschaftlich, freundschaftlich, gerade vor der Bescherung, die Weihnachten zu einer komplexen Festmatrix machen. Niemand kann helfen, kein Knigge sagt, was richtig ist und was geschmacklich wie schriftlich entglitten.

SMS und E-Mail: verpönt

Vorschlag: Weihnachtsgrüße per SMS sind verboten – das ist so elektronisch-beliebig, dass die Geste mehr beleidigt als erfreut. Per E-Mail (und Internetkarte) ist grenzwertig: Für modern halten das manche, andere finden sowas schreibfaul-berührungslos.

Und die Weihnachtskartenfaustregel könnte lauten: An wen man nie und nimmer während der vergangenen zwölf Monate im Guten nicht mindestens zweimal je zehn Sekunden dachte, hat keinen Xmas-Gruß verdient. Und wer ganz auf die sichere Seite möchte, schenkt sich alle Schreiberei gänzlich – und spendet den finanzielle Aufwand für einen guten Zweck.