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Auf der Glibberspur

U-Bahn-Station Platz der Luftbrücke in Berlin. Isabelle Adjani im blauen Kleid nimmt die Rolltreppe, sie trägt ein volles Einkaufsnetz und blickt etwas seltsam. Sie lacht, sie ist allein unterwegs, ihre Schritte hallen im Gang der U-Bahn-Station. Das Lachen wird hysterischer, sie taumelt gegen die Wand, sie wirft den Kopf in den Nacken, das Gesicht der ihr folgenden Handkamera zugewandt. Ihre langen Haare fliegen, sie taumelt weiter, sie schreit jetzt, sie knallt das Einkaufsnetz an die Wand. Da spritzt die Milch und fließt an den Kacheln hinunter. Wie in Trance beginnt sich Adjani zu bewegen, sie tanzt, ihr Körper zuckt, tierisch, die von ihr ausgestoßenen Laute. Sie fällt auf die Knie, steht wieder auf, geht wieder zu Boden, wälzt sich in der Milch – und wie einem tollwütigen Tier fließt ihr dann, einen Schnitt später, die weiße Flüssigkeit aus dem Mund, auch Rot ist im Spiel, eine Riesensauerei ist das, aus Rot und Weiß, Sperma und Blut.

Filmischer Wahnsinn

Dies ist eine der erstaunlicheren Szenen der Kinogeschichte. Sie stammt aus einem durch und durch merkwürdigen Film. Gedreht hat ihn der polnische Regisseur Andrzej Żuławski, der wegen allzu viel Ärger in seiner Heimat in den frühen Siebzigerjahren in den Westen ging, dort den Romy-Schneider-Film „Nachblende“ drehte und fortan ein Publikum, das mit seinen Filmen entweder nichts oder alles anzufangen wusste, mit Körperflüssigkeiten und Geistigem, mit Leidenschaft und Delir, mit Sex und Metaphysik und auch mit abgründiger Geschlechterpolitik zu traktieren verstand. (Er lebt noch, hat seit zehn Jahren nichts mehr gedreht: ein Elder Statesman filmischen Wahnsinns.)

Für „Possession“ ging Żuławski 1980 ins geteilte Berlin. Mit voller Absicht: Die Mauer steht mitten im Bild. In einem Apartment direkt an der Mauer trägt sich ein größerer Teil der Handlung auch zu. Durchs Fenster sieht man auf der anderen Seite die Grenzer, die mit dem Fernglas in die Kamera blicken, nicht minder im Unklaren darüber, was zum Teufel sich zuträgt, als etwa Zuschauer und Jury in Cannes, wo im Wettbewerb der Film zur Aufführung kam. Isabelle Adjani gewann, vergleichbar durchaus Charlotte Gainsbourgs „Antichrist“-Auszeichnung, der Goldenen Palme. Unberechenbarer Film, in dem eine Frau alles gibt: Da wähnt sich die Jury auf der sicheren Seite.

Sex mit Monster

„Possession“ ist die Geschichte einer in Auflösung begriffenen Ehe. Der Ehemann namens Mark (Sam Neill) folgt seiner Frau, sie zerlegen bei einer Aussprache das Café Einstein, er entdeckt, dass es einen anderen Mann gibt (gespielt von Heinz Bennent), entdeckt aber auch, dass er froh sein dürfte, wäre das alles. Ein Detektiv kommt ums Leben. Im Hinterzimmer der Wohnung direkt an der Mauer tun sich schwer erklärliche Dinge. Ein tentakelbewehrtes Monster kommt zur Welt, und in einer Szene, die man auch gesehen haben muss, um sie zu glauben, hat Adjani dann Sex mit dem übrigens mutierenden Monster.

„Possession“ steht irritierend zwischen Genre und Kunst. Er ist ein politischer Horrorfilm, der auf der Glibberspur seines direkt neben der Mauer hausenden Monsters von der Buchstäblichkeit zur Metapher rutscht und wieder zurück. Dingfest zu machen ist sein Sinn nicht.

Sicher ist nur, es gehen einem nicht nur die Augen, sondern auch der Verstand bei seiner Betrachtung durchaus über. In Deutschland kam „Possession“ nie regulär in die Kinos. Das „Bildstörung“-Label bringt nun die ungeschnittene Fassung auf DVD. Die Extras, darunter Interviews mit Żuławski und dem Drehbuchkoautor Frederic Tuten, sind sehr sehenswert. EKKEHARD KNÖRER

■ Andrzej Żuławski: „Possession“. Mit Isabelle Adjani, Sam Neill u. a. Frankreich/ Deutschland 1981, 127 Min. Die von Bildstörung mustergültig edierte DVD gibt es ab rund 16 Euro im Handel