Das kleine Kalb und die große Wut

Bei einem Tier aus ihrer Herde war die Rinderkrankheit BSE diagnostiziert worden – vor fünf Jahren ein Todesurteil. Aber Jeanne d‘Arc entkam dem Abdecker. Und wurde für Landwirte und Tierfreunde zum Symbol gegen aktionistische Massentötungen von Rindern. Die Kuh ist heute noch putzmunter

„Als wir den Wagen öffneten, fiel uns als Erstes dieses Kälbchen entgegen“

Wenn „Jeanne d‘Arc“ Menschen beim Sprechen zuhört, klappt sie ihre Ohren nach vorne und ähnelt eher einer Dogge als einer 370 Kilogramm schweren Kuh. „Sie ist sehr neugierig“, sagt ihre Besitzerin Michaela Timm, Landwirtin in Nindorf im Kreis Dithmarschen.

Dieses Verhalten kommt nicht von ungefähr: „Jeanne d‘Arc hat ihre ersten Monate allein mit Pferden, Hunden und einem Hängebauchschwein verbracht“, erzählt die Bäuerin. Wenn es nach den Behörden gegangen wäre, hätte die Kuh das alles nicht erlebt. Dann hätte das Tier 24 Stunden nach seiner Geburt im Januar 2001 den Tod gefunden. Der Grund: Bei einem Tier aus der Herde war die Rinderkrankheit BSE diagnostiziert worden – damals ein Todesurteil. „Jeanne“ entkam dem Abdecker – und wurde so eine Symbolfigur für die Wut der Bauern.

Warum eigentlich die ganze Herde töten? Mit dieser Frage auf den Lippen hatten in einer Januarnacht vor knapp fünf Jahren etwa 70 Bauern in Nordhastedt gegen den Abtransport von 350 Tieren demonstriert. Wenige Wochen nach dem ersten Fall von Rinderwahnsinn in Deutschland gingen sie in die Offensive: Innerhalb einiger Stunden schwoll die Menge auf 500 wütende Zuschauer an. „Wir bemerkten, dass an dem Transporter mit den Kälbern die Lüftungsklappen nicht geöffnet waren“, erinnert sich Bäuerin Timm. „Als wir den Wagen öffneten, fiel uns als Erstes dieses Kälbchen entgegen. Es konnte noch gar nicht stehen, war nass, und die Nabelschnur hing noch dran.“ Es war auch noch nicht gesäugt worden.

„Wenigstens dieses Tier soll leben!“, forderten die Bauern. Auge in Auge mit dem geballten Volkszorn entschloss sich der zuständige Staatssekretär Rüdiger von Plüskow, das Tier aus dem Viehtransporter freizugeben. „Als wir mit dem Kalb im Kofferraum unseres Golfs nach Hause fuhren, ahnten wir schon, dass da noch was kommt“, sagt die 32-Jährige. Frau Timm sollte Recht behalten: Während am Abend die ersten von tausenden Anrufen mit Sympathiebekundungen eintrafen und ein Internetforum dem Tier den Namen gab, holte die Staatsmacht in Kiel zum Gegenschlag aus: „Jeanne“ sollte sterben, möglichst bald.

Behördenvertreter tauchten auf dem Hof der Timms auf: „Sie zeigten uns ein Schreiben in englischer Sprache, angeblich von der EU“, schildert Michaelas Mann Torsten Timm (37). „Da hieß es, dass kein Bauer aus Schleswig-Holstein mehr Fleisch exportieren dürfe, solange Jeanne nicht gekeult sei. Später hat sich das als eine Fälschung herausgestellt.“ Obwohl das Kälbchen bei einem Nachbarn im Brennholzschuppen für Behörden und Öffentlichkeit unsichtbar blieb, wurde es für Landwirte und Tierfreunde zu einem Symbol gegen aktionistische Massentötungen von Rindern.

„Es waren weniger die Bauern als vielmehr Ottonormalverbraucher, die bei uns anriefen“, sagt Michaela Timm. Wenige Tage später schlüpfte das Kalb bei einem anderen Bekannten im Pferdestall unter. Zeitgleich gab es einen Nervenkrieg mit den Behörden. Ein Gespräch mit der damaligen Landwirtschaftsministerin Ingrid Franzen (SPD) endete im heftigen Streit, meint das Ehepaar.

„Viele wollten uns in dieser Zeit vor ihren Karren spannen, wir haben das nicht zugelassen“, sagt Torsten Timm. Erst im Sommer 2001 kam es zur Einigung, die für Ruhe sorgte. Das ist auch insofern bemerkenswert, weil schon Wochen zuvor die rücksichtslose Herdentötung bundesweit abgeschafft worden war. „Jeanne d‘Arc war da schon viel zu sehr an Menschen gewöhnt. Wir haben sie dann auf die Feldmark gebracht, wo sie ausschließlich mit anderen Kühen stand.“ Seither steht das Tier mit rund 140 anderen Tieren im Stall der Timms. Als ob nichts passiert wäre. In wenigen Wochen wird „Jeanne“ ihr drittes Kälbchen bekommen. DPA