Das Trinchen und die glücklichen Gnus

Zwischen Dinkel und Gersten ein bisschen Einkehr finden. Oder einen Freund. Weihnachten im Bioladen

Mittags begann es zu schneien. Erst segelten einzelne Flocken vom Himmel, wie um das Terrain zu sondieren; danach wurden es mehr: fette große nasse Dinger, die sich spätestens auf dem Straßenpflaster vor dem kleinen Bioladen in nichts auflösten.

„Sie lösen sich auf in nichts“, dachte das Trinchen wehmütig, „wie alle meine Träume.“ Der Traum vom Glück. Der Traum von einem richtigen Freund mit langem Bart und buschigen Augenbrauen, der ihr die Füße wärmte und bunte geringelte Wollsocken strickte. Der Traum von einem gemeinsamen Leben auf dem Land, auf einem Hof mit Gänsen, Schnecken und Faultieren.

„Träumst du?“, hielt ihr ein Kunde seinen Einkaufskorb entgegen. Hinter ihm hatte sich eine lange Schlange gebildet. Das krankhaft blasse Trinchen ließ sich nichts anmerken. Wie so viele seinesgleichen wirkte es vollkommen gleichgültig, latent unglücklich und unendlich langsam. Im Zeitlupentempo tippte es die Waren ein: ein Bund Biomöhren, ein Glas vegetarischer Brotaufstrich, Holundertee, Biokloreiniger. Seine Mundwinkel zogen sich noch weiter nach unten: Die sollten es mal alle in Ruhe lassen! Ausgerechnet am Heiligen Abend war der Laden so voll wie selten. Dabei wollte es doch bloß schläfrig durch kundenleere Gänge schlurfen und in Ruhe schlechte Laune haben.

„Siebzehn achtzig“, murmelte es.

„Wie bitte?“

„Siebzig achtzig.“ Kein „bitte“ – warum auch? Der Kunde bezahlte anstandslos, und eine halbe Stunde später war der Laden endlich leer. Empört schnaubte das Trinchen: Hoffentlich würden diese Leute niemals wiederkommen! An sechs Tagen in der Woche platzten sie herein – laut, schnell, fröhlich und selbstbewusst; mit ihrer aufdringlichen Art, die Dinge anzufassen, in den Korb zu packen und wegzukaufen. Sie forderten, fragten, monierten und weckten das Trinchen auf. Dabei war es so gerne hier im Laden, aber allein, und sah durch das große Schaufenster dem Schnee beim Fallen zu.

Heute würde es das Geschäft gar nicht schließen, beschloss das Trinchen. Niemand würde damit rechnen, dass so lange geöffnet wäre, und alle feierten zu Hause. Alle, bis auf das Trinchen. Seine Familie wohnte in Helmstedt. Ob die überhaupt noch lebten? Egal. Das Trinchen gähnte.

Am Nachmittag kam tatsächlich keiner mehr. Das Trinchen schlurfte durch die Gänge und sortierte unmotiviert Dinkelbatzen in den Korb mit den Gerstenklumpen und Gerstenklumpen in den Korb mit den Dinkelbatzen. Dann wieder zurück. So verging die Zeit. Das Trinchen zündete eine Biokerze an. Der Abend brach herein.

Das Trinchen schlief gerade im Stehen, als die Glocke ging und ein Mann eintrat. Etwas Langweiligeres als der feuerrote Mantel hätte ihm gewiss besser gestanden, auch deutete der mächtige Bauch verdächtig auf einen Fleischesser hin. Aber der lange Bart und die buschigen Augenbrauen! Überdies wollte er nichts kaufen, sondern „irgendwas verschenken“. Damit konnte das Trinchen gut leben. Auf der Stelle verliebte es sich in den Weihnachtsmann.

Sie brauchten keine Worte. Arm in Arm standen sie am Fenster und blickten auf die Straße hinaus, die nass im Schein der Gaslaternen glänzte. Längst hatte es aufgehört zu schneien. Das Trinchen staunte: wie warm und weich der Weihnachtsmann war! Sein Atem roch nach Calvados aus ökologischem Anbau. Er deutete auf einen Schlitten in zweiter Spur, vor den mehrere seltsame Tiere gespannt waren.

„Glückliche Gnus“, raunte der Weihnachtsmann, sah das Trinchen wie bittend an und ging hinaus zum Schlitten. Das Trinchen schlurfte wie in Trance hinterher und schloss zum letzten Mal die Tür des kleinen Bioladens ab. Dann setzte es sich vorne neben seinen Mann.

„Hüh“, sagte der Weihnachtsmann. Sie fuhren los.

ULI HANNEMANN