Dezentrale neue Kleider

LITERATURFESTIVAL Mit mehr als 30 Veranstaltungen wollen die HEW Lesetage ein Zeichen gegen die Ökonomisierung der Kultur durch Großkonzerne setzen

Gegen die „Refeudalisierung“ des Kulturbetriebes und die damit einhergehende Privatisierung und Ökonomisierung aller Lebensbereiche vom Gesundheitswesen bis zur Energiewirtschaft hat sich der Schriftsteller Ingo Schulze schon vor fünf Jahren in Weimar anlässlich der Verleihung des vom Energiekonzern Eon finanzierten Thüringer Literaturpreises mit deutlichen Worten gewendet: „Mich stört, dass wir dabei sind, das aufzugeben, was in einem langen Prozess erkämpft worden ist: dass der demokratische Staat seine Verantwortung wahrnimmt, nicht nur für die Künste.“ Und überließ dem Land Thüringen das Preisgeld.

Letztes Jahr dann hat Schulze in einem viel beachteten Gastartikel in der Süddeutschen Zeitung 13 „Thesen gegen die Ausplünderung der Gesellschaft“ formuliert und im 80-seitigen Essay „Unsere schönen neuen Kleider. Gegen eine marktkonforme Demokratie – für demokratiekonforme Märkte“ (Hanser, 80 S., 10 Euro) eine neue Lektüre von Hans Christian Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ vorgeschlagen. Denn das Bestürzende etwa daran, dass das Gemeinwesen im Zuge der Finanzkrise jenes Geld aufbringen musste, das die Banken zum überleben brauchten, sei: „Es hatte keine Konsequenzen. Die Demokratie verkam zum Schutzmantel einer De-facto-Oligarchie.“ Zu glauben, nur die Klugen könnten die unsichtbaren Kleider der Demokratie erkennen, hieße wie im Märchen dem Schneider auf den Leim zu gehen – und sich jeder Fähigkeit zur Kritik zu berauben.

Am Montagabend wird Schulze zum Auftakt der HEW Lesetage auf Kampnagel unter anderem aus seinem Essay und seinem 1995 erschienenen Roman „33 Augenblicke des Glücks. Aus den abenteuerlichen Aufzeichnungen der Deutschen in Piter“ lesen. Und anschließend mit der Literaturkritikerin Annemarie Stoltenberg und dem Publikum über „Kunst und Knechtschaft“ diskutieren.

Mit über 30 Veranstaltungen wollen die HEW Lesetage – HEW steht dabei für: Hamburger Energie Wechsel, eine Anspielung auf den ursprünglichen Namen der nun vom Energiekonzern Vattenfall veranstalteten Lesetage – sich für dezentrale Strukturen stark machen, sowohl für das Lesefestival als auch für die Energieversorgung in der Stadt. Neben Ingo Schulze lesen unter anderem Friedrich Ani, Frank Göhre, Merle Kröger, Harry Rowohlt, Jochen Schimmang, Sybil Gräfin Schönfeldt, Frank Spilker und Barbara Sichtermann. Sterne-Sänger Spilker etwa stellt seinen ersten Roman „Es interessiert mich nicht, aber das kann ich nicht beweisen“ (Hoffmann & Campe, 160 S., 17.99 Euro) vor, taz-Autor Jochen Schimmang seinen derzeit entstehenden autobiografischen Essay „Grenzen Ränder Niemandsländer“, in dem sich Schimmang dem an den Rändern verborgenen Glück widmet. Und sich mit den Depressionen auseinandersetzt, die die Zugehörigkeit zu einem Tätervolk hervorruft.  MATT

■ Mo, 15. 4. bis So, 21. 4., diverse Orte; Programm unter www.hew-lesetage.de