: „Das Neue scheint immer das Wichtigste zu sein“
ÖFFENTLICHKEIT Der Philosophie-Professor Volker Gerhardt analysiert das politische Bewusstsein. Ein Gespräch über Optimismus in Zeiten des Shitstorms
■ Person: Philosoph, 1944 geboren in Guben, Brandenburg. Lehrt an der Humboldt-Universität zu Berlin, Schwerpunkt Praktische Philosophie, Rechts- und Sozialphilosophie. Hat zu zahlreichen ethischen Fragen in Kommissionen streitbar mitgearbeitet (Sterbehilfe, Pränatale Diagnositik). Von 2001 bis 2012 war er Mitglied im Deutschen Ethikrat. Seit 2010 ist Volker Gerhardt Mitglied der Grundwertekommission der SPD.
■ Aktuelles Buch: „Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins“, C. H. Beck, München 2013
■ Auftritt: Über postdemokratische Öffentlichkeit debattiert er auf dem taz.lab 2013 am 20. April mit der politischen Korrespondentin der taz, Bettina Gaus.
GESPRÄCH JAN FEDDERSEN UND HANS HÜTT FOTOS ANJA WEBER
Er ist längst emeritiert, aber der Humboldt-Universität zu Berlin, der er seit 1992 mit einem Lehrstuhl für Praktische Philosophie angehört, ist er durch gern wahrgenommene Lehrverpflichtungen noch verbunden: Volker Gerhardt gehört zu den einflussreichsten und öffentlichkeitsstärksten Intellektuellen im Lande. Er, der in Berlin und Hamburg lebt, empfängt uns im Hauptgebäude der Humboldt-Universität an einem Sonnabend – Sprechstundentag für Studierende, für uns. An der Wand am Schreibtisch eine Fülle privater Fotografien und Bilder von berühmten DenkerInnen. Er serviert mittelsprudelndes Mineralwasser.
sonntaz: Herr Gerhardt, welche Anekdote fällt Ihnen spontan ein, um die Idee der Öffentlichkeit als einen Segen zu begreifen?
Volker Gerhardt: Vor kurzem hatte ich in Berlin mit einem Kollegen zu tun, der den Namen eines in der DDR unter Walter Ulbricht in Ungnade gefallenen hochrangigen Politikers trägt. Nach der Unterredung fragte ich ihn, ob es eine verwandtschaftliche Verbindung gebe, und erfuhr, dass mir der Sohn des prominent gestürzten Funktionärs gegenübersaß. Bis zum Fall der Mauer war die Familie schweren Repressalien ausgesetzt. Trotzdem war es seinerzeit möglich, den Vorgang in den westlichen Medien in Erinnerung zu halten, und so war es die kritische Öffentlichkeit, die dem Sohn einen Schulabschluss, das Studium und schließlich auch den Weg zu einer angesehenen beruflichen Praxis ermöglichte.
Andererseits gibt es auch hergestellte Öffentlichkeiten, die zu schärferen Haftbedingungen und Repression führen.
Um es mit Montaigne zu sagen: Alles, was wirklich gut ist, kann auch missbraucht werden. Und das gilt auch für die Öffentlichkeit. Aber allein um dergleichen zu erkennen und zu verstehen, braucht man Öffentlichkeit.
Ihr jüngst erschienenes Buch stellt die „Öffentlichkeit“ ja ohne ihre Schattenseiten dar – hauptsächlich als eine gute Sphäre.
Das ist sie ja auch! Nicht nur die menschliche Kultur, die Wissenschaft, die Kunst und die Politik sind auf die tragende Funktion der Öffentlichkeit angewiesen. Auch unser Bewusstsein ist ohne Öffentlichkeit nicht vorstellbar. Diese elementare zivilisatorische Dimension der Öffentlichkeit war überhaupt erst einmal herauszuarbeiten. Die Schattenseiten habe ich nicht verschwiegen; die Unverzichtbarkeit der Öffentlichkeit aber musste im Vordergrund stehen.
Ist Öffentlichkeit eine Arena des Politischen vor allem?
Öffentlichkeit ist eine uralte Einrichtung. Ohne sie gäbe es weder die Schrift noch das Recht noch das Theater. In der Politik ist sie unabdingbar, aber eben nicht nur als die Arena der zuschauenden Menge; jedes Amt, jede Verwaltung, vor allem aber jede Gerichtsbarkeit beruhen zumindest auf der Unterstellung einer Öffentlichkeit. Auch die großen Religionen sind auf die öffentliche Verkündigung angewiesen: Im Johannes-Evangelium fordert Jesus die Jünger auf, frei und offen aufzutreten und die Öffentlichkeit nicht zu scheuen.
Aber wenn beinah alles öffentlich wird, versanden die Botschaften, die offenbar verdienen, bekannt gemacht zu werden, sehr rasch. Neulich lief in der ARD eine Dokumentation über einen lettischstämmigen Jungen, der in Hamburg sich verzweifelt selbst umbrachte, weil die Behörden ihn mit Verweis auf Gesetze abschieben wollten. Hat sich aufgrund dieses Films, dieser öffentlichen Geste, etwas geändert? Nein. Sind wir mit Skandalen und Tragödien übersättigt?
Ich würde sagen: Öffentlichkeit ist ein Lebensphänomen. Sie ist dem Lebensrhythmus unterworfen und folgt den Phasen erster Erregung, gesteigerter Aufmerksamkeit, allmählicher Gewöhnung und dem sich oft sehr schnell einstellenden Vergessen. Gegen das Bedürfnis nach Abwechslung werden wir wohl nie etwas tun können – und auch nicht tun wollen. Aber die Vergesslichkeit kann uns erschrecken, wenn wir erleben, wie rasch selbst dramatische Meldungen schon nach wenigen Tagen auf den letzten Seiten verschwinden und alsbald vergessen sind.
Wie meinen Sie das?
Denken Sie an die Naturkatastrophen, die Epidemien oder Lebensmittelskandale. Für kurze Zeit sind sie in aller Munde und oft schon mit der nächsten Sensation vergessen. Diese Schwankungen kennen wir von unserer eigenen Aufmerksamkeit. Das Neue scheint immer das Wichtigste zu sein. Aber das ist es nicht. Also muss man gegensteuern. Das ist man sich selber schuldig, das muss aber auch von der medialen Öffentlichkeit gefordert werden. Wir dürfen sie weder mit dem Auge Gottes noch mit der Registratur amtlicher Bekanntmachungen verwechseln. Es ist unser Interesse, das die Öffentlichkeit allererst zu dem macht, was sie ist. Folglich hat man sich immer auch selbst als Teil der Öffentlichkeit zu begreifen. Das fällt leichter, wenn man zeigen kann, dass schon das Bewusstsein des Einzelnen öffentlich ist.
Noch einmal zurück zur Vergesslichkeit: Der aus dem Fernsehen bekannte Wissenschaftserklärer Ranga Yogeshwar erzählte vor zwei Jahren bei einer Veranstaltung der taz in Berlin, selbst für Schlimmstes – damals bezog er sich auf Fukushima – gelte eine mediale Halbwertszeit von acht bis zehn Tagen. Ist es nicht bitter – Katastrophen als Stoff des Unterhaltungswunsches?
Ja, gewiss. Aber so ist es, und man muss mit sachlichen Gründen dagegenhalten, ohne über die Oberflächlichkeit der Menschen zu lamentieren. Der beste Schutz vor Einseitigkeit und Vergessen sind Meinungsfreiheit, offen ausgetragene Gegensätze und eine öffentliche Selbstkontrolle der Medien.
So kurz vor dem Evangelischen Kirchentag in Hamburg gefragt: Hilft da nicht ein Gott, der alles sieht und alles zum Guten regelt?
Ihre Ironie ist nicht zu überhören. Tatsächlich gab es den Glauben, die Götter seien die Wächter der Öffentlichkeit. Ob das zu wirksamen Kontrollen geführt hat, ist schwer zu sagen; vermutlich wirkt das nur in der moralischen Selbstkontrolle des Individuums. Aber die Götter haben den Horizont der Wahrnehmung erweitert, auch über die Grenzen der Lokalgottheiten hinweg. So gibt es Lernprozesse, die gleichsam über den Umweg des Himmels in Gang gekommen sind. Sie werden schon beim antiken Historiker Herodot geschildert, und Thomas Mann hat sie in seinem Josephsroman als weltgeschichtliche Einflussgröße bewusst gemacht. Dass man im altägyptischen Theben schon drei Wochen später wusste, was für eine neue Mode in Babylon getragen wurde, und dass man argwöhnisch darauf achtete, nicht die schlechteren Götter zu haben, sind alles Frühformen einer Weltöffentlichkeit, die schon den Griechen als ganz selbstverständlich erschien.
Ins Heutige gezogen: Ohne Öffentlichkeit wäre keine soziale Bewegung der Nachkriegszeit wirklich zur Welt gekommen – etwa auch die Frauenbewegung nicht, die ohne die Kampagne „Wir haben abgetrieben“ in der populären Zeitschrift Stern nicht denkbar gewesen wäre. Ist das prinzipiell gut für das Politische?
Ja, es gehört zwangsläufig zum Politischen dazu. Die Öffentlichkeit setzt, wie ich zu zeigen versuche, die Existenz und die Sicherung einer privaten Sphäre voraus. Sie kann nur als Gegeninstanz zur anerkannten Sphäre des persönlichen Daseins wirksam sein. Aber wenn Menschen mit ihren persönlichen Nöten in die Öffentlichkeit gehen, um auf politische Probleme aufmerksam zu machen, so gehört das zur unvermeidlichen Dynamik gesellschaftlicher Entwicklung. Öffentlichkeit kann immer auch als Zumutung erlebt werden. Und Peinlichkeiten kann man nicht durch prinzipielle Regelungen umgehen. Hier muss letztlich jeder selbst abwägen, was er sich zumuten kann. Und es ist offenkundig, dass die persönliche Verantwortung wächst, je kürzer die Wege in die Öffentlichkeit sind.
Aber nun gibt es neue Formen der Öffentlichkeit, die des Internets. Anke Domscheit-Berg etwa beklagt, dass die Fantasien vom Netz als demokratischem Forum nicht mehr gültig seien. Das Internet – es sei eine Domäne des weißen, heterosexuellen Mannes geworden.
Das globale Netz schafft ganz kurze Wege und stellt damit – moralisch und politisch gesehen – immer größere Anforderungen an den Einzelnen, der einen immer geringeren Aufwand treiben muss, um öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wenn man früher etwas öffentlich zur Kenntnis bringen wollte, musste man sich auch persönlich exponieren. Man wurde als Individuum oder als handelnde Gruppe sichtbar. Das hatte ein existenzielles Moment. Man zeigte sich und war selbst angreifbar. Wer an der Öffentlichkeit teilhaben wollte, musste sich als Person exponieren. Heute fehlt oft die Kontrolle allein durch ein weiteres Augenpaar: Ich fand und finde es gut, wenn da in der Regel noch jemand ist, mit dem man sich beraten muss und der darüber entscheidet, ob die Nachricht oder der Artikel zur Veröffentlichung taugt. Es wäre mir lieb, das gäbe es auch in Zukunft: Redaktionen, die Beiträge prüfen, Lektoren, die Bücher kritisch lesen, und Korrektoren, die ihren Sachverstand einbringen. Alles das fällt beim electronic publishing in der Regel völlig weg. Da haben wir ein Beispiel für sozialen Verlust durch technischen Fortschritt.
Die gute alte Welt – aber inzwischen geht es auch hinter schützenden Hecken: Man kann sich im Netz hinter Pseudonymen verstecken.
In der Tat: Das geht heute per Mausklick und in jedem Internetcafé. Die Vereinfachung ist unerhört und ich bin der Letzte, der darin nur Gefahren sieht. Die Erleichterung ist beachtlich und bietet große Chancen auch für die Produktivität des Einzelnen. Aber dass die größere Unabhängigkeit auch zu mehr Selbstkontrolle der Individuen und zu neuen Regeln des kommunikativen Umgangs führen muss, scheint mir unstrittig zu sein. Ein ganz anderes Problem ist, dass jenes „Ins-Netz-Stellen“ keineswegs immer schon heißt, dass etwas wirklich öffentlich sichtbar ist. Die Internet-Publikationen vieler Bücher dürften im Verborgenen bleiben – und auf Dauer verloren sein, wenn die Technik, sie zu lesen, nicht mehr zur Verfügung steht. Auf die Gefahren, die hier mit dem open access gegeben sind, habe ich wiederholt aufmerksam gemacht.
Um beim Punkt der Prüfung auf Sachlichkeit einzuhaken: Eine wie Alice Schwarzer etwa wäre doch schlecht beraten gewesen, ihre Paragraf-218-Aktion etwa bei der Zeit zu lancieren – bei denen hätte sie locker noch 25 Jahre warten müssen, ehe man bei denen befunden hätte, oh, das ist jetzt nicht mehr igittigitt, sondern ein echtes Problem. Nutzten die Feministinnen der Siebziger nicht auch jene Blätter und Illustrierten, die zu einem papiernen Shitstorm fähig waren?
Ganz recht, das ist eine triftige Parallele. Es gab früher sehr wohl Konkurrenzen, Gegensätze und unterschiedliche Urteilskriterien. Und die sollte es heute auch geben. Das entfällt leider weitestgehend im Bloggen, beim Twittern oder bei Facebook. Was das im Ganzen für Konsequenzen hat, wird heute niemand mit Gewissheit sagen können. Abwegig erscheinen staatliche Kontrollen, denn sie schaffen nur noch größere Gefahren. Aber vielleicht bietet das Netz auch ganz neue Formen der Selbstregulation?
Bedauern Sie den Niedergang der klassischen Medien, also des Zeitungsgewerbes?
Sehr. Und ich bin mir bewusst, dass zum klassischen Mediengewerbe viele Zeitungen gehören. Auch solche, die ich nicht lesen möchte. Wenn sich diese Vielfalt verliert, verschwindet ein zentrales Moment unseres kulturellen Bewusstseins.
Aber durch Blogs wird doch die Vielfalt stark verbessert, oder?
Sie mögen Recht haben; die Meinungsstürme sind mitunter ja gewaltig und dürften nicht nur zu einer heilsamen sozialen Abfuhr, sondern auch zu einer hilfreichen persönlichen Profilierung führen. Die Unabhängigkeit von als autoritär empfundenen Kontrollen und die Formen direkter Ansprache können befreiend wirken. Ich gebe das gerne zu und betone mit Nachdruck, dass ich die Chancen der neuen Medien für größer halte als die Risiken. Aber die bereits bestehenden Konflikte um den Schutz der Privatsphäre oder das Urheberrecht sind sehr ernst zu nehmen. Wenn individuelle Leistungen nicht mehr geachtet werden, können wir auch gleich auf die Öffentlichkeit verzichten, die es – systematisch betrachtet – nur gibt, um Individuen in ihrer Eigenständigkeit miteinander in Verbindung zu bringen.
Könnte man dieses Spannungsverhältnis als eines zwischen Durchlässigkeit und Filterung bezeichnen? Ein Offenhalten von Kritischem – wie Sie es auch im Ethikrat der Bundesregierung vorgeschlagen haben? Öffentlichkeit klassischer Art nicht unter Denkmalschutz zu stellen, sondern als Prozesscharakter zu begreifen?
Von der Antike bis in die Gegenwart haben sich die Öffentlichkeiten rasant verändert. Ein Ende ist nicht abzusehen. Da irgendetwas auf Dauer stellen zu wollen, halte ich für naiv. Was aber bleiben muss, ist der Anspruch auf öffentliche Kontrolle. Sie ist nicht ohne rechtliche Regelungen denkbar, für die man nun wiederum auf das Politische nicht verzichten kann. Mehr kann ich zur Zukunft eigentlich nicht sagen.
Muss man das aushalten – die immer kürzeren Reiz-Reaktions-Schemata, wenn diese etwa zu einem Shitstorm im Netz führen? Oder muss man einen solchen, falls man betroffen ist, einfach auszuhalten lernen?
Zu Öffentlichkeit gehört auf alle Fälle ein Gedächtnis, ein Wissen um das, was vor dem Aktuellen liegt. Das entfällt freilich immer stärker, je weniger die traditionellen Medien nicht mehr existieren können. Medienvielfalt ist daher geboten, wenn wir unser kulturelles Gedächtnis wahren wollen.
Shitstorm – dessen Leidtragende sprechen von Verletzungen, die ihnen zugefügt wurden.
Wunden entstehen dann, wenn etwas, das einem wichtig ist, verletzt wird. Schonung ist daher ein gutes Prinzip wechselseitiger Rücksicht. Aber es ist erfahrungsgemäß gerade in der Öffentlichkeit schwer einzuhalten. Sie lässt das Lob größer erscheinen und kann aus dem Tadel ein vernichtendes Urteil machen. Daran sollte jeder denken, der öffentlich urteilt. Aber nicht selten bedarf es der Vergrößerung und Vergröberung durch die Öffentlichkeit, um Probleme sichtbar zu machen. Das muss man wissen und hinnehmen – auch wenn man selbst betroffen ist.
In der taz sagte jüngst ein türkischer Kurator, die Idee einer Öffentlichkeit sei verschwunden. Der Sektor des Öffentlichen sei keine gegebene Größe mehr, wir müssten sie neu erfinden. Es beginne ein Zeitalter der Nachöffentlichkeit. Ist das der Aggregatzustand einer postdemokratischen, alternativlosen Marktreform der Demokratie?
Gegen Erfindungen habe ich nichts. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass die Öffentlichkeit „neu erfunden“ werden muss. Es gibt sie nicht erst seit Gutenberg, und sie hat sich auch im 20. Jahrhundert unter dem Einfluss von Radio und Fernsehen nicht bis zur Unkenntlichkeit verändert. Wir brauchen auch nicht viel zu tun, um die neuen Medien in sie zu integrieren. Wichtig ist hingegen, dass die Öffentlichkeit nach wie vor ernst genommen wird, dass ihr keine politischen Schranken auferlegt werden und dass man ihr zutraut, ein Mittel nicht nur der politischen, sondern auch der individuellen Befreiung zu sein. Individualität und Öffentlichkeit waren schon immer auf das engste verschwistert. Die elektronischen Medien zeigen, dass diese Verbindung produktiver ist als je zuvor.
■ Jan Feddersen ist Autor und Redakteur der taz für besondere Aufgaben und fürchtet sich nicht vor Shitstorms. ■ Hans Hütt, Autor und Journalist, schreibt beim Blog www.wiesaussieht.de mit.