TANIA MARTINI LEUCHTEN DER MENSCHHEIT
: Wer stört, ist gestört

Das Schöne am Winter ist ja, dass der Erlebniszwang ausgesetzt ist. Nun kommt der Frühling und ich werde wieder auf Spielplätzen in gentrifizierten Bezirken abhängen. Dort, wo das kindliche Gangsterspiel mit Spielzeugwaffen diskreditiert ist, aber akribisch auf gutes Durchsetzungsvermögen geachtet wird. Wo ein kindlicher Wutausbruch Scham hervorruft und Selbstbeherrschung mit Eigentum belohnt wird: der Sandkasten ein parzelliertes Territorium, auf dem bereits 2-Jährige ihr gekennzeichnetes Spielzeug bewachen. Wie beim Schneckenwettlauf beobachten die Eltern ihre Kombattanten, alle wollen sie ein Alphatierchen.

Neulich belauschte ich, wie eine Mutter für die Frauenquote argumentierte: Mädchen seien in der Schule besser als Jungs und deshalb gehörten sie in die Chefetagen. Ich nannte sie eine Borderline-Feministin. Ihr ging es nicht um Gerechtigkeit, sondern um die Belohnung vermeintlich weiblicher Fähigkeiten, wie sie der kognitive Kapitalismus auch propagiert. Diesen Druck geben sie nach unten weiter. An die Kinder und an die untersten Schichten der Gesellschaft. Der Psychiater Allen Frances berichtet in seinem neuen Buch „Normal“ (Dumont 2013) entsetzt von einer Studie, derzufolge in den USA 83 Prozent der Kinder und Jugendlichen eine psychische Störung entwickeln, ehe sie 21 sind.

Der Barmer-Arztreport 2013 zeigt an, dass im Alter von 11 Jahren 7 Prozent der Jungen und 2 Prozent der Mädchen Ritalin verordnet bekommen. Dabei ist ADHS keine Diagnose, sondern nur eine Symptombeschreibung. Innerhalb von fünf Jahren stieg die Zahl der Fälle der unter 19-Jährigen um 42 Prozent. Für die Modediagnose „bipolare Störung“ kommt man auf ähnliche Zahlen. Wir tendieren dazu, jede Abweichung von der gesetzten Norm, jede Störung, zu pathologisieren. Doch das liegt nicht nur an einer viel zu mächtigen Pharmaindustrie, wie Allen Frances suggeriert. Da geht es auch um Verbürgerlichungsfantasien, Geschlechterkampf und Leistungsideologie. Man begebe sich bloß einmal auf einen Mittelschichtsspielplatz.

Die Autorin ist Kulturredakteurin