Das Leben als Penrose-Parkettierung

FRAGMENTE Wie viele Blickwinkel ergeben ein Ganzes? In „Quasikristalle“ zerlegt Eva Menasse die Biografie einer Frau in Einzelperspektiven

VON TIM CASPAR BOEHME

Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ‚Erkennen‘; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, umso vollständiger wird unser ‚Begriff‘ dieser Sache, unsre ‚Objektivität‘ sein.“ Unter den Zitaten, die den 13 Kapiteln in Eva Menasses neuem Roman einzeln vorangestellt sind, könnte theoretisch auch dieser Satz Friedrich Nietzsches auftauchen. Theoretisch – denn er beschreibt die Vorgehensweise Menasses in „Quasikristalle“ vielleicht eine Spur zu offensichtlich.

Ein Leben wird erzählt, in chronologischer Reihenfolge, aber aus der Sicht ständig wechselnder Personen. Xane Molin, die Hauptfigur, die wie Menasse in Wien aufwächst und später nach Berlin ziehen wird, kommt lediglich im zentralen Kapitel selbst zu Wort.

Zuvor werden eine Schulfreundin, ein Holocaustforscher oder eine Gynäkologin der Protagonistin zu verschiedenen Zeiten und an unterschiedlichen Orten begegnet sein und sehr abweichende Eindrücke von dieser Frau gewonnen haben. Einigen dieser Personen begegnet man an späterer Stelle im Roman erneut, andere werden bloß eine Station auf dem Lebensweg gewesen sein.

Mit dem Titel „Quasikristalle“ hat Menasse eine wissenschaftliche Metapher gewählt, die auf eine Entdeckung des israelischen Physikers Daniel Shechtman zurückgeht. Zufällig beobachtete dieser 1984 bei einem Experiment unter dem Mikroskop eine Struktur, die es eigentlich gar nicht hätte geben dürfen: Kristalle sind für gewöhnlich periodisch geordnet, und bis zu Shechtmans Versuch hatte man andere – d. h. „aperiodische“ Ordnungen – bei ihnen als unmöglich angesehen. Um dieses eher abstrakte Phänomen zu veranschaulichen, findet sich auf dem Buchumschlag denn auch eine sehr schön anzuschauende „Penrose-Parkettierung“, ein Kachelmuster, das sich ebenfalls bei Quasikristallen findet.

Der Aufbau des Buchs macht zunächst neugierig. Da ist etwa die ungeklärte Situation im ersten Kapitel, in dem man noch überlegt, welche der beiden Wiener Freundinnen jetzt eigentlich den Rest der Geschichte bestreiten wird, oder, ein Kapitel weiter, der Holocaustforscher, der sich in fast autodestruktiver Selbstreflexion ergeht, andererseits im Urteil über seine Zeitgenossen keinerlei Bedarf für diplomatische Zurückhaltung oder Freundlichkeit sieht. Zugleich erfährt man in diesem Kapitel, wie ein regelmäßiger Auschwitz-Besucher denkt, der andere als „Führer“ durch die mitunter höchst schwierig zu bewältigenden Stationen der Gedenkstätte lotsen muss.

Midlife-Crisis, Kindstötung

Auch die in der ersten Person erzählten Einsichten Xane Molins in ihrem „eigenen“ Kapitel haben es in sich. Man wird Zeuge einer veritablen weiblichen Midlife-Crisis, der schwindenden Attraktivität einer verheirateten Mutter für andere Männer oder von Umständen, die eine Mutter zur Kindstötung treiben könnte. Passagen wie diese gehören zu den stärksten des Buches.

An anderer Stelle kreist das Buch hingegen allzu behaglich um die Alltagsnöte von intellektuellen Patchworkfamilien, verbleibt alles in allem sehr stark in der Binnenansicht eines eher geschlossenen Milieus, ohne dass die dabei aufgeworfenen Fragen immer besonders drängend oder erkenntnisfördernd schienen. Manches klingt in seiner prosaischen Beiläufigkeit eine Spur zu banal. Das Problem des Romans ist daher weniger die formale Anlage, wie einige Kritiker bemängeln, es sind vielmehr die überwiegend unspektakulären und nur bedingt verdichteten Erlebnisse der meisten Figuren, die aus dieser Sammlung von Fragmenten im Ergebnis kein richtig zwingendes Porträt werden lassen. Fast hat man den Eindruck, dass Xane Molins Lebensgeschichte als ganze der Schriftstellerin ein bisschen Angst macht und sie diese lieber hinter den Erlebnissen ihrer anderen Figuren mehr oder weniger versteckt.

Daran ändert selbst die durchweg elegante Sprache Menasses wenig. Man könnte sogar meinen, dass die Belanglosigkeit einiger Abschnitte durch den makellosen Stil fast noch deutlicher zutage tritt. Das ist schade, wenn man dagegen hält, wie unerbittlich und genau Menasse beobachten kann. Am Ende wünscht man sich, „Quasikristalle“ wäre ein kürzeres, böseres und witzigeres Buch geworden. So jedoch bleibt es eine zwiespältige Angelegenheit – wie ein Puzzle, an dem man immer weiter die Lust verliert, je mehr Teile sich zusammenfügen, weil das zutage tretende Bildmotiv nicht fesselnd genug ist.

Eva Menasse: „Quasikristalle“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013, 432 Seiten, 19,99 Euro