berliner szenen Ein Querulant spricht

Schönwetterdemokraten

Wir saßen relativ gemütlich herum. Alles war unaufdringlich angenehm, im Fernsehen lief eine schöne Reportage über Hartz IV. Manchmal sagte einer etwas, manchmal ein anderer. Jedenfalls kam dann dieser Typ vorbei, ein alter Freund des einen, vielleicht noch aus Hausbesetzerzeiten. Schon bald begann er ohne Punkt und Komma zu erzählen, als hätte sich das alles in ihm aufgestaut, als hätte er tagelang, immer wütender werdend, Fernsehen geguckt. Er fing harmlos an, dann ging es aber, plötzlich schärfer werdend, ständig um „die wahren Machtverhältnisse“, die sich hinter den scheinbaren verbergen würden. Immer wieder sagte er den Satz: „Man muss die wahren Machtverhältnisse berücksichtigen.“

Er fragte nicht danach, was wir darüber denken würden oder ob uns das überhaupt interessiere; er redete wie ein Wasserfall, in einem Tonfall, als wäre da jemand im Raum, der ihm vehement widersprechen würde, doch da war gar keiner. Er machte Witze über Franz Josef Strauss, in denen es darum ging, dass man am billigsten an einen Starfighter käme, wenn man sich ein Stück Land kaufen und dann warten würde, bis … haha; es ging auch um Chile, er klagte über „die Deutschen“, die Schönwetterdemokraten seien und sich nach einer Diktatur sehnten und wegen der Verhältnisse jetzt auf die Nagelprobe gestellt würden. Man werde schon sehen. Und die SPD, seit 1918 gehe das ja schon so: „Links blinken und rechts abbiegen“. Das sei schon immer deren Konzept gewesen.

Während er redete, fühlte man sich immer beengter. Wahrscheinlich kam er aus einer Zeit, in der jeder Andersmeinende zum Todfeind erklärt wurde. Als ich ging, entschuldigte er sich für seinen Redeschwall.

DETLEF KUHLBRODT