Hilfe als Politikersatz

Die Hilfe für die Tsunami-Opfer zeigt, dass es eine wachsende globale Verantwortung gibt – und wie zivilgesellschaftliches Engagement instrumentalisiert werden kann

… wird Hilfe an Private delegiert, die nicht anders können, als partikulare Interessen zu verfolgen

Das Motto, mit dem ein deutsches Medien-Kaufhaus die hiesige Schnäppchenjäger-Mentalität umwirbt, schien Anfang dieses Jahres jede Kraft verloren zu haben. Nicht „Geiz ist geil“ stand auf der Tagesordnung, sondern die Frage: „Wer gibt mehr?“

Die große Welle der Hilfsbereitschaft, die der Zerstörung der Küsten Südasiens durch das Seebeben vom 26. Dezember 2004 folgte, übertraf alle Erwartungen. Über 650 Millionen Euro Spenden – nie zuvor hatte es das in Deutschland gegeben. Gewiss hing die große Aufmerksamkeit, die das Seebeben in der Öffentlichkeit fand, damit zusammen, dass unter den Opfern auch Deutsche waren und lieb gewonnene Touristenparadiese zerstört wurden. Dennoch kamen in dem großen Engagement auch Anzeichen einer wachsenden globalen Verantwortung zum Ausdruck. Schulen, Kommunen, Vereine, Belegschaften boten langfristige Unterstützungen an, und insbesondere die Jüngeren machten deutlich, dass der Trend zur gesellschaftlichen Entsolidarisierung, der mit dem Siegeszug des Neoliberalismus einhergegangen ist, zumindest nicht mehr unwidersprochen ist.

Die große Hilfsbereitschaft aber darf nicht darüber hinwegtäuschen, wie bedroht die Idee des sozialen Ausgleichs ist. Gerade das Geschehen rund um die Tsunami-Hilfe zeigt, wie gut gemeintes zivilgesellschaftliches Engagement fehlgeleitet und instrumentalisiert werden kann. Schnelles, pragmatisches Zupacken war angesagt. Spontane Helfer, vom Bürgermeister bis zum Chefredakteur, machten sich in die Krisenregion auf und glaubten, ohne jede Kenntnis der politischen, sozialen und kulturellen Umstände vor Ort, sinnvoll Hilfe leisten zu können. Gute Bedingungen für Geschäftemacher und auf den eigenen Vorteil bedachte Politiker.

Keine Frage: Die Unterstützung der Opfer des Tsunami war und ist notwendig. Ohne den Beistand von außen wäre das Ausmaß der Schäden noch immer sehr viel größer. Aber Probleme entstanden immer dort, wo nicht die Betroffenen selbst über die Gestaltung des Wiederaufbaus entschieden und die Hilfe den Menschen übergestülpt wurde. Allzu häufig orientierten sich die Helfer an den Erwartungen der heimischen Öffentlichkeit, die lieber für Waisenhäuser und Fischerboote spenden wollte als für selbst bestimmte Wiederaufbaubemühungen. Mit dem fatalen Ergebnis, dass sich der Bestand der Boote in manchen Dörfern verdoppelt hat, aber weder Vermarktungskapazitäten geschaffen wurden noch der drohenden Überfischung Rechnung getragen wurde.

Vernünftige Planungen galten vielen der spontanen Helfer als überflüssig. Dafür wären Verwaltungs- und Betreuungskosten notwendig gewesen, die offenbar als Betrug an den Spendern angesehen wurden. Der Wunsch, die Hilfe solle direkt und ohne Abzug ankommen, ging fast immer zulasten der Professionalität. Hinzu kam, dass immer neue Akteure auf den Plan traten, so auch multinationale Konzerne, Tourismusunternehmen und Banken, die ihr angekratztes Image aufzupolieren versuchten, indem sie sich werbewirksam als Wohltäter präsentierten. Mehr und mehr gerät Hilfe so zum Marketing-Instrument, das sich obendrein noch aus Spenden finanzieren lässt.

Im Moment ihres scheinbar größten Erfolges zeigte sich die Hilfe zugleich auch in ihrer vollen Widersprüchlichkeit. Statt den Beistand für Not leidende Menschen als Rechtsanspruch zu begreifen, für den staatlich zu garantieren ist, wie es der UN-Sozialpakt vorschreibt, wird Hilfe an private Akteure delegiert, die gar nicht anders können, als partikulare Interessen zu verfolgen. So notwendig die zivilgesellschaftliche Initiative ist, so wenig dürfen staatliche Institutionen aus ihrer sozialen Verantwortung entlassen werden. Andernfalls droht die weitere Re-Feudalisierung des sozialen Beistands. Die Zeichen dafür gibt es: So stehen die unter unglaublichen Umständen dem Winter trotzenden Bauern im Norden Pakistans viel weniger in der Gunst der Wohlhabenden dieser Welt als vor Jahresfrist die Opfer des Tsunami.

Die Hoffnung, dass das Seebeben – zusammen mit all den anderen ökologischen Katastrophen, die sich dieses Jahr ereignet haben – zur Revision der globalen Spaltungsverhältnisse beitragen würde, hat sich vorerst zerschlagen. Vor 250 Jahren, als Lissabon von einem Erd- und Seebeben in Schutt und Asche gelegt wurde, war das anders. Damals nahmen Voltaire, Rousseau, Kant, ja die gesamte intellektuelle Welt die Zerstörung einer der blühendsten Städte Europas zum Anlass, um mit der selbstzufriedenen Überzeugung, die existierende Welt sei notwendig die beste aller möglichen Welten, nachhaltig aufzuräumen.

Vieles deutet darauf hin, dass das aufgeklärte Katastrophenverständnis, das sich mit dem Erdbeben von Lissabon durchzusetzen begann, heute wieder zurückgedrängt wird. An die Stelle rationaler Ursachenforschung treten erneut religiöse Deutungen von Sintflut und Erweckung, aber auch die Dämonisierung der Natur. Die Folgen sind immens: Nicht mehr die kritische Erörterung von Fragen der Ökologie, so etwa die prekären Folgen der Abholzung von Mangrovenwäldern im Zuge der Tourismusentwicklung oder die Klima schädigende Zersiedlung der Landschaften, interessiert, sondern der reißerische Titel des Boulevards: „Terrorangriff der Natur – Will die Erde uns loswerden?“.

Als der frühere Umweltminister Jürgen Trittin mit Blick auf die Überflutung New Orleans die Zunahme ökologischer Desaster in den Kontext ungebremster Schadstoffemissionen stellte, wurde ihm nicht Zustimmung zuteil, sondern der Vorwurf, er missbrauche die Not von Menschen ideologisch. Er wurde zurückgepfiffen von denen, die den Prozess der Globalisierung gerne als ökonomische Zwangsläufigkeit präsentieren, die politisch nicht gesteuert, nur hier und da ein wenig abgefedert werden kann.

Statt Beistand für Not leidende Menschen als staatlich garantierten Rechtsanspruch zu begreifen …

Die Politik der Entpolitisierung, die Pierre Bourdieu als konstitutives Merkmal der neoliberalen Globalisierung ausgemacht hat, beeinflusst längst auch die Konzeptionen von Hilfe. Nicht mehr das Bemühen um eine nachhaltige Überwindung von Not und Anhängigkeit ist ihr Ziel, sondern das bloße Abfedern jener Schäden, die Ausdruck härter werdender sozialer Verteilungskämpfe und zunehmender ökologischer Katastrophen sind und fast immer die ärmeren und ausgeschlossenen Teile der Weltbevölkerung treffen.

Hilfe aber, die nicht die strukturellen Ursachen von Not und Elend im Blick hat, verkümmert zur begrenzten „guten Tat“, die über den permanenten Mangel an Gerechtigkeit hinwegtrösten soll. Statt den Ursachen und Auswirkungen von Katastrophen vorzubeugen und mit politischen Initiativen auf die Warnungen von Klimaforschern und Entwicklungsexperten zu reagieren, gerät solche Hilfe mehr und mehr zum Substitut fehlender Politik. Die Welt aber leidet nicht etwa an zu wenig Hilfe, sondern an Verhältnissen, die immer mehr Hilfe erforderlich machen.

THOMAS GEBAUER