Die Kurzgeschichte
: Feiertagsblues

Eine Erzählung zwischen den Jahren, von Frank Schäfer. Teil 1: Friedrich ruft an

Friedrich rief zuerst Bernie an. Der hatte den weitesten Anfahrtsweg. Die anderen waren längst wieder zurückgezogen nach Giffendorf, Südheide. Dorthin, wo alles begann, wo jede fehlende Latte im Zaun ein Wink an das Erinnerungsvermögen war, ein Wink, der immer funktionierte. Wenn also einer absagen würde, dann wohl zuerst Bernie. Aber der zeigte sich erstaunt, daß Friedrich ihm so etwas unterstellen wollte. „Na, es hätte ja sein können, daß selbst du mal was Besseres vorhast.“ „Was soll ich denn Besseres vorhaben? Wir feiern bei meinen Eltern – ab zwölf habe ich frei ...“ Er betonte das letzte Wort so euphorisch, als ginge es um sein ganzes weiteres Leben. Als Friedrich nicht antwortete, wußte Bernie Bescheid. „Ach sooo ...“ – „Was – ach sooo?“, machte Friedrich ihn nach. „Feiertagsblues!“ – „Blödsinn.“ – „Red‘ nicht, dich stürzt doch schon eine vierstellige Postleitzahl in die Depression.“ Friedrich antwortete nicht darauf. „Alter Ort, alte Zeit?“ Darauf bekam nun er keine Antwort. Sie war überflüssig. Friedrich kam sich albern vor und verabschiedete sich eilig. Bernie hätte ihm gern noch etwas erzählt, aber morgen würde das ohnehin alles auf den Tisch kommen.

Die vierstellige Postleitzahl! Natürlich, Bernie hatte recht. Aber er hatte den zeitspringenden ersten Schluck der Wodkabowle vergessen, wenn sie sich wie jedes Jahr in der heiligen Nacht – nach der Pflicht in der Familie – bei Knüppel trafen. Und den Begrüßungshandschlag. Das tiefe Ploppen, wenn die beiden Hohlhände aufeinander klatschten, bevor einer den anderen aus dem Gleichgewicht brachte und ihn an die Brust zog und umarmte, diese im ganzen Torso fühlbare Freude, das leichte Reißen am Herzmuskel.

Und Bernie hatte die muschelförmige Betonbushaltestelle am Ortsausgang vergessen. Vor ihnen stehen die ausgeweideten grünen Sechserträger Mai-Ur- Bock, die Kirchenglocke läutet achtmal, es ist immer noch warm, ihre Räder liegen auf dem Rasenstück dahinter, und diese Sehnsucht nach etwas, das sie nicht kennen und vielleicht nie kennenlernen werden, es ist die pure, ziellose, ursprüngliche Sehnsucht, macht sie stumm. Bis zwei braune Mädchen auf roten Rädern vorbeifahren, schon zum zweiten Mal, und Bernie einen seiner Harteier-Standards runterkurbelt. „Wie heißta, wo wohnta, wann machta Party!“ Mit der rechten „geht“ er dann zwei Jahre, dann ziehen ihre Eltern weg, nach Hannover, das ist gar nicht weit entfernt, nur 60 Kilometer, aber die Zugverbindung ist schlecht. Die linke ist ein paar Jahre mit Knüppel zusammen, dann mit einem aus dem weiteren Freundeskreis, und Knüppel schmeißt eine Fensterscheibe ein, verbiegt eine Autoantenne und macht sein Abitur mit dreikommasechs.

Friedrich hatte das nicht vergessen. Auch nicht den Gutsherrenkrug und seinen Wirt – „Leiche“, wegen seiner ungesunden Gesichtsfarbe. Und schon gar nicht den „Teller Pommes Ketchup und ein Bier“ für dreiachtzig. Wenn einer der Thekenhocker, Schnapsköppe und Deckelsäufer reinkommt – oder einfach nur ein Schichtarbeiter, um die drei halben Brathähne abzuholen – und auf ihren Tisch klopft zur Begrüßung, dann fühlen sie sich fast eins mit dieser Welt. Beim Zahlen an der Theke, unter den halbverhängten Augen der Stammbelegschaft, werden sie doch wieder linkisch, aber schon sind sie draußen und gehen zur Bushaltestelle, wo die Räder liegen. Ihre Reihe nimmt die gesamte Straßenbreite ein, und Friedrich geht neben Knüppel und Bernie und Matze und Gerd, und er würde sie am liebsten an die Hand nehmen oder schreien, weil das kaum noch auszuhalten ist, und dann schreit er wirklich. „Paris is burning.“ Und die anderen schreien jetzt auch. „I can see it from the faaaar.“

Friedrich hatte das nicht vergessen, als er jetzt bei Knüppel anrief und ihm sagte, daß er dieses Jahr mal die Zutaten besorgen würde. Knüppel entgegnete, daß die „Spezialitäten Tutti-Frutti aus der Dose, Sekt und Vanille-Eis“ bereits seit Ende November „kühl und frisch, sozusagen artgerecht“ bereit lägen. Und Wodka habe er sowieso immer da. Friedrich könne also „ganz besinnlich bleiben“.

Als sie sich verabschiedet hatten – „Morgen um zwölf, wie gehabt, aber nicht klingeln, wegen der Kinder!“ – zog sich Friedrich eine Jacke an und fuhr in die Stadt, um noch ein paar Kleinigkeiten für die Eltern zu besorgen. Auf einmal freute er sich auf morgen.