„Mehr Geld in der Tasche hätte niemand“

taz-Serie „Vorschau 2006“ (Teil 2): Im Frühjahr befasst sich das Bundesverfassungsgericht mit der Haushaltsklage des Landes Berlin gegen den Bund. Das Urteil soll noch 2006 fallen. Der Wirtschaftsforscher Dieter Vesper erklärt mögliche Auswirkungen

INTERVIEW RICHARD ROTHER

taz: Herr Vesper, nehmen wir an, ich habe mir ein teures Weihnachtsgeschenk gekauft und mich dabei überschuldet. Kann ich dann vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Entschuldungshilfen einklagen?

Dieter Vesper: Nein. Sie sind ein Privatmensch und für Ihre Finanzen selbst verantwortlich.

Warum kann Berlin das?

Berlin ist ein Bundesland und in die gesamtwirtschaftliche Entwicklung eingebunden. Deshalb ist es sinnvoll, dass Verschuldungsspielräume genutzt werden, um handlungsfähig zu sein.

Kann Berlin Pleite gehen?

Dieser Fall ist wohl ausgeschlossen, weil im Zweifel das bündische Prinzip gilt. Das bedeutet, dass der Bund und die anderen Bundesländer helfen.

Warum musste der Berliner Senat nach Karlsruhe gehen?

Berlin hat die Spielräume überreizt und befindet sich deshalb in einer extremen Haushaltsnotlage. Nachdem Verhandlungen mit dem Bund über Hilfen gescheitert waren, musste Berlin den Klageweg in Karlsruhe nehmen. Berlin muss sich nun diese Hilfen einklagen. Letztlich entscheiden die Karlsruher Richter, ob Berlin diese Hilfen verdient oder ob es sich aus eigener Kraft aus seiner Lage befreien kann.

Warum dauert das Verfahren so lange?

Die Verfassungsrichter müssen sich in diese komplexe Materie erst einarbeiten, das braucht seine Zeit. Ich schreibe ein finanzwissenschaftliches Gutachten auch nicht in zwei Tagen. Zudem ist das Berliner Verfahren nur eines von vielen.

Nehmen wir an, Berlin hat Erfolg. Wer muss zahlen?

Im Erfolgsfall würde Berlin so genannte Bundesergänzungszuweisungen zur Linderung seiner Haushaltsnotlage erhalten, wie sie etwa das Saarland und Bremen Anfang der 90er-Jahre in Karlsruhe eingeklagt hatten. Der Bund würde dann diese Mittel, über einen gewissen Zeitraum gestreckt, an Berlin überweisen.

Mit wie viel Geld kann Berlin denn rechnen?

Legt man die gleichen Maßstäbe wie in den Fällen von Bremen und dem Saarland, könnten dies bis zu 35 Milliarden Euro sein. Damit würde Berlin in die Lage versetzt, seine Schulden abzubauen. Dies würde dazu führen, dass weniger Geld für Zinsen ausgegeben werden muss und mehr Mittel zur dringend notwendigen Sanierung der Infrastruktur zur Verfügung stehen könnten. Paradiesische Zustände wären aber nicht zu erwarten.

Warum waren Bremen und das Saarland erfolgreich?

Beiden – sehr kleinen – Ländern waren Lasten aufgebürdet worden, die sie nicht alleine tragen konnten. In Bremen waren das die Folgen der Werftkrise in den 80er-Jahren, im Saarland war es die Stahlkrise. Einerseits sanken die Steuereinnahmen, andererseits wurde viel mehr Geld für Sozialleistungen gebraucht.

Was hat Berlin in eine vergleichbare Lage gebracht?

Die Zusammenführung der beiden Stadthälften, die 40 Jahre getrennt waren, bedeutete zu Beginn der 90er-Jahre eine enorme Last. Zumal beide Stadthälften zuvor stark subventioniert waren – Westberlin wäre ja ohne die Bundeshilfen gar nicht überlebensfähig gewesen. Nach dem Fall der Mauer wurden die entsprechenden Hilfen innerhalb kurzer Zeit eingestellt, weil man auf einen selbsttragenden Aufschwung oder gar Boom der Hauptstadt vertraute. Der trat nicht ein. Mit der Finanzierung der Folgen war Berlin rettungslos überfordert.

Berlin trifft keine Mitschuld?

Doch, Berlin hat viel zu spät auf finanzielle Anpassungszwänge reagiert. Berlin hat zu lange an den Hauptstadt-Boom geglaubt, der alle Probleme quasi automatisch lösen sollte.

Bremen und das Saarland haben viel Geld bekommen, stehen jetzt aber wieder schlecht da. Ist das nicht ein Argument gegen Sonderhilfen für Berlin?

Nein. Beide Länder durften selbst entscheiden, wie sie die Hilfen verwenden: entweder für den Schuldenabbau oder zur Verbesserung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, indem etwa die Infrastruktur ausgebaut wird. Letzteres ist im Prinzip richtig, aber erstens ist der Erfolg nicht garantiert, und zweitens wäre der fiskalische Effekt für den Landeshaushalt selbst in dem Fall gering, dass tatsächlich ein höheres Wirtschaftswachstum generiert würde. Weil überdurchschnittliche Einnahmen zum größten Teil in den Länderfinanzausgleich fließen würden. Unabhängig davon wurden in Bremen fragwürdige Projekte wie das Freizeitzentrum Space Park finanziert.

Sinnvoller wäre es also, die Hilfen nur für den Schuldenabbau zu verwenden?

In erster Linie sollte man dies tun. Geringere Schulden bedeuten eine geringere Zinsbelastung, dadurch erhöhen sich die Spielräume für Investitionen. Ein Schuldenabbau ist auch mit Blick auf die Finanzmärkte gebotern: Im Moment ist das Zinsniveau relativ günstig; stiege es, stiegen auch die Belastungen für den Berliner Haushalt. Ein falsches Signal wäre es, die Bundeshilfen für zusätzliche Ausgaben zu verwenden.

Die Berliner Klage ruft in vielen Regionen die Stimmung hervor: Die Faulen werden belohnt, und die Fleißigen werden bestraft. Steckt darin ein wahrer Kern?

Zunächst einmal muss in einem Bundesstaat die Devise gelten: Alle für einen, und einer für alle. Die Stimmung ist aber nachvollziehbar, deshalb muss man ihr entgegenwirken. Ein Notlage-Land muss alles versuchen, sich so schnell wie möglich am eigenen Schopf aus der Misere herauszuziehen.

Macht Berlin das?

Ja. Die Finanzlage hat sich in Berlin spürbar verbessert. Der rigide Sparkurs hat zu einem erstaunlichen Abbau des Haushaltsdefizits geführt – und zwar trotz widrigster wirtschaftlicher Rahmenbedingungen und erheblicher Steuerentlastungen auf Bundesebene, die den Berliner Haushalt ebenso tangieren. Im Jahr 2007 wird Berlin wahrscheinlich einen Überschuss erzielen – wenn man die Zinsbelastungen herausrechnet. Berlin hat geleistet, was kein anderes Bundesland geschafft hat: Die Stadt gibt heute deutlich weniger aus als vor zehn Jahren.

Viele Berliner haben das Gefühl, ihre Stadt werde kaputt gespart.

Diese Stimmung ist verständlich. Berlin ist – auch auf Grund des Sparkurses – seit Jahren eines der Schlusslichter beim Wirtschaftswachtum. Darunter leiden viele Berliner: Die Infrastruktur der Stadt befindet sich in einem erbarmungswürdigen Zustand, und viele Menschen finden keine Arbeit. Der Stellenabbau im öffentlichen Dienst führt zum Beispiel dazu, dass junge Referendare, die hier für viel Geld ausgebildet wurden, in andere Bundesländer abwandern, weil ihnen Berlin keine Perspektive bietet. Obwohl an den Schulen vieles im Argen liegt.

Was würden die Berliner von den Hilfen überhaupt spüren?

Mehr Geld in der Tasche hätte der Einzelne sicher nicht. Insgesamt würde sich die Perspektive aber verbessern, einige könnten von Neueinstellungen im öffentlichen Dienst profitieren. Mittelfristig könnte Berlin sein Angebot im Schul- und Hochschulbereich ausbauen.

Was passiert, wenn Berlin in Karlsruhe keinen Erfolg hat? Kommt der Insolvenzverwalter?

Nein. Aber Berlin müsste noch stärker sparen, müsste noch weitere öffentliche Einrichtungen schließen …

zum Beispiel eine der drei Universitäten?

Das kann man jetzt noch nicht sagen. Aber das Angebot an Studienplätzen, vor allem in der teuren Medizin, ließe sich sicherlich nicht aufrechterhalten. Ein negatives Urteil würde erhebliche Probleme bringen. Es hätte Folgen über Berlin hinaus, weil es die bundesstaatliche Finanzsituation in Frage stellen würde.

Würde es zu einer Entsolidarisierung zwischen den Bundesländern kommen?

Ja, die ist ja jetzt schon teilweise zu sehen. Die Geberländer forcieren ja permanent die Diskussion um eine Neuordnung des Finanzausgleichs. Statt Ausgleich zwischen den Regionen soll nun der Wettbewerb vorangetrieben werden. Dabei hätten die finanzstarken Länder von vornherein bessere Chancen.

Alle reden immer nur vom Sparen. Gibt es dazu wirklich keine Alternative?

Auf der Landes- oder regionalen Ebene gibt es bei knappen Finanzen kaum Alternativen. Natürlich hat eine relativ reiche Stadt wie Hamburg andere Möglichkeiten als Berlin, zum Beispiel bei der Wirtschaftsförderung.

Uns Berlinern fehlt also eine Goldader?

Vor allem fehlt eine gute konjunkturelle Entwicklung der gesamten Volkswirtschaft. Davon würde auch Berlin profitieren.

Das Heil wird immer im Wirtschaftswachstum gesehen. Dabei sind die negativen Folgen – mehr Verkehr und Zersiedelung, hohe Mieten – in prosperierenden Zentren wie Frankfurt, München oder Hamburg nicht zu übersehen. Ist das nicht der falsche Weg?

Wirtschaftliches Wachstum ist erforderlich, um den Menschen Arbeit und Einkommen zu geben. Die Alternative sehen wir ja jetzt: Der Verzicht auf Wirtschaftswachstum führt zu einer hohen Arbeitslosigkeit. Viele Menschen sind deshalb auf Transfereinkommen angewiesen, die tendenziell sinken, weil die zur Finanzierung nötigen Einnahmen fehlen. Diese Abwärtsspirale kann man nicht wollen. Wünschenswert wäre aber eine wirtschaftliche Entwicklung, die drei Bedingungen erfüllt: Sie sollte stetig sein, Arbeitsplätze schaffen und ökologisch verantwortbar sein.