Neue Ermittlungen gegen Pamuk

Türkischem Schriftsteller droht weitere Anklage. Initiator ist eine ultranationalistische Juristenvereinigung. Sie bringt derzeit noch andere Intellektuelle vor den Kadi

ISTANBUL taz ■ Noch ist nicht entschieden, ob das Verfahren gegen den prominentesten türkischen Schriftsteller, Orhan Pamuk, eingestellt wird oder nicht, da läuft bereits ein neues Ermittlungsverfahren gegen den diesjährigen Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels. Wie ein Sprecher seines Verlages Iletisim gestern mitteilte, hat die Staatsanwaltschaft aufgrund einer Anzeige gegen Pamuk offizielle Ermittlungen aufgenommen. „Ob diese Ermittlungen zu einer neuen Anklage führen, ist noch unklar“, teilte der Verlag in einer Presseerklärung gestern mit.

Die staatsanwaltlichen Ermittlungen gehen auf eine Anzeige einer ultranationalistischen Juristenvereinigung zurück, die bereits das noch laufende Verfahren gegen Pamuk ausgelöst hatte. Dieses Mal ermittelt die Staatsanwaltschaft, ob Pamuk sich in einem Interview mit der Welt der „Beleidigung des Militärs“ schuldig gemacht hat.

Dieser Juristenverein, der zum Umfeld der rechtsradikalen MHP und ihrer Jugendorganisation „Graue Wölfe“ gehört, ist im Prozess gegen Pamuk auch als Nebenkläger aufgetreten und hat in den letzten Monaten, insbesondere im Zusammenhang mit der Armenienfrage, gleich reihenweise Ermittlungsverfahren und Prozesse ausgelöst.

So ging nicht nur der Versuch, die kritische Armenienkonferenz, die im September in Istanbul stattfand, per Gerichtsbeschluss zu verhindern, auf sein Konto. Auch mehrere Ermittlungsverfahren gegen den Chefredakteur der türkisch-armenischen Wochenzeitig Agos, Hrant Dink, und vier weitere kritische Kolumnisten großer Zeitungen gehen auf Anzeigen der nationalistischen Juristentruppe zurück.

Dink, einer der bekanntesten Vertreter der armenischen Gemeinschaft in der Türkei, war der Erste, der nach dem Gesinnungsparagrafen 301 des neuen Strafgesetzbuches in diesem Herbst zu sechs Monaten Haft verurteilt wurde. Verantwortlich dafür war dasselbe Gericht im Istanbuler Bezirk Sisli, vor dem auch Pamuk angeklagt ist.

Nun wird Hrant Dink erneut mit einem Verfahren überzogen, weil er nach seiner ersten Verurteilung gesagt hatte, er werde die Türkei verlassen, sollte das Urteil rechtskräftig werden. Das wertet die Staatsanwaltschaft als Versuch, die Justiz unzulässig unter Druck zu setzen.

Welch absurde Ausmaße die Instrumentalisierung der Justiz für die politische Auseinandersetzung mittlerweile angenommen hat, zeigte sich in der vergangenen Woche. Auf der Jahrestagung des Industriellenverbandes Tüsiad, der eine dem BDI vergleichbare Rolle spielt, kritisierten zwei Redner den Prozess gegen Pamuk und ein anderes Verfahren gegen den Rektor der Universität von Van. Die beiden Redner, Vorstandschefs der beiden größten Konzerne der Türkei, Sabanci und Koc, zogen sich dadurch den Zorn von Ministerpräsident Tayyip Erdogan zu. Der behauptete wutschnaubend, die beiden hätten versucht, die unabhängige Justiz zu beeinflussen. Prompt wurde am nächsten Tag bekannt, dass der Generalstaatsanwalt Ermittlungsverfahren gegen Mustafa Koc und Ali Sabance aufgenommen hat.

Angesichts solcher Vorfälle wundert es nicht, dass die Regierung auf den Druck der EU, der Anwaltsvereinigung sowie der Schriftsteller- und Journalistenvereine, die entsprechenden Paragrafen des Strafgesetzbuches abzuschaffen oder zu novellieren, bislang nicht reagiert hat.

Ungerührt schaut Justizminister Cemil Cicek zu, wie eine rechtsradikale Juristenvereinigung mit Hilfe einiger Staatsanwälte derzeit die führenden Intellektuellen des Landes vor den Kadi zerrt. Es gebe keinen Grund für eine Novellierung des Strafrechts verkündete Cicek unlängst, die „Feinjustierung des neuen Gesetzes“ sei nun Sache der Justiz. JÜRGEN GOTTSCHLICH