Der Agent vom Ladentisch

GESCHICHTE Die Buchhandlung Leuwer Am Wall birgt bibliophile Schätze und biographische Geheimnisse

Keine Helden-Saga, ein Zeitdokument von „um die Ecke“

Die Buchhandlung Leuwer am Wall ist in Bremen weithin bekannt: Nicht nur wegen der immensen Auswahl an Reiseliteratur und Kartenmaterial aller Art. Sondern auch, weil der betagte Klaus Plückebaum und seine Frau Angelika in ihren Räumen seit Jahrzehnten Lesungen und Ausstellungen im eigens eingerichteten Kunstkabinett veranstalten. Unbekannt ist hingegen, dass sich mit dieser Buchhandlung auch ein historischer Agenten-Krimi verbindet.

Diese Geschichte hat Nils Aschenbeck nun „gehoben“ und zu einem Buch verarbeitet: „Agent wider Willen“. Aschenbeck erzählt darin ein Bremer Schicksal, das in seiner Geworfenheit in die Wirren des 20. Jahrhunderts an die Unglaublichkeiten erinnert, die die Bremer Kapitänstochter, Fidel Castro-Geliebte und spätere CIA-Agentin Marita Lorenz erlebte.

Doch während dieses Schicksal durch Wilfried Huismanns Film „Liber Fidel“ berühmt wurde, kannte man den in die große Weltgeschichte verstrickten Buchhändler Franz Leuwer bislang bestenfalls als Schwiegersohn Axel Springers.

Leuwer, der unter dem Pseudonym Frank Lynder Geheimdienst-Karriere machte, wurde 1916 in Bremen geboren und wanderte 1938 nach London aus – als „Halbjude“ war er mehrfach bedroht worden. In London, recherchierte Aschenbeck, wurde Lynder zu einer zentralen Figur beim Kurzwellensender Atlantik, der die Angehörigen der deutschen Kriegsmarine moralisch bearbeitete. Zeitgenossen erzählen von dem „charakteristischen Bremer Akzent“, mit dem Lynder angebliche Musikwünsche deutscher Matrosen im Sender anmoderierte. Dank seiner Geheimdienstkontakte habe er die Besatzung einzelner U-Boote unmittelbar ansprechen können. In London erfuhr Lynder vom Tod seiner Mutter in Theresienstadt.

Lynders Nachkriegs-Zeit war zunächst von Zufällen geprägt: Im Springer Verlag lernte er seine spätere Frau kennen, die Schwester des Verlagschefs. Der machte ihn zur rechten Hand, Lynder erfand unter anderem die damals sehr populäre Comicfigur „Detektiv Schmidtchen“ für die Bild. Doch weder die Nazis noch die Geheimdienste ließen Lynder alias Leuwer los: Im Auftrag des Bundesnachrichtendienstes (BND) reist er 1961 nach Jerusalem zum Eichmann-Prozess. Lynders Spezial-Auftrag: Er sollte brisante Unterlagen aus dem Hotelzimmer eines DDR-Anwalts stehlen – was Lynder auch gelang. Der BND befürchtete Ansehensverlust für die BRD.

Dieser Diebstahl war alles andere als eine Ruhmestat: Mit dem ebenfalls „halbjüdischen“ Friedrich Karl Kaul bestahl Lynder einen hoch engagierten antifaschistischen Anwalt. Aber Aschenbeck hat eben keine Helden-Saga geschrieben, sondern ein überraschendes Zeitdokument von „um die Ecke“ ausgegraben.  HB

Lesung: heute, 19.30 Uhr, DKV-Residenz, Am Wandrahm 42