Im Anfang war die Verwertung

KAPITALISMUS Der französische Sozialist Paul Lafargue, Erfinder des „Rechts auf Faulheit“, hielt das Geld für den Motor der Geschichte. Seine Schrift „Die Religion des Kapitals“ wurde neu aufgelegt

Zu den göttlichen Pflichten des Kapitals gehört es, das Geld einzustreichen

VON MICHAEL BÖHM

War Paul Larfargue (1842–1911) der Kulturpessimist der Arbeiterklasse? Er, der französische Sozialist, der ein „Recht auf Faulheit“ einräumte und den Führern der verschiedenen sozialistischen Parteien Frankreichs ob seines Nonkonformismus stets ein Dorn im Auge war, der sich in der Pariser Kommune engagierte und mit seiner Frau Laura, der Tochter von Karl Marx nach einem Opernbesuch Selbstmord beging? War er nichts anderes als der Oswald Spengler der Proletarier aller Länder?

„Das Kapital kennt weder Heimatländer noch Grenzen“, schrieb er 1886 in die „Die Religion des Kapitals“, „weder Hautfarbe noch Rasse, weder Alter noch Grenzen, es ist der universale Gott, es wird alle Menschenkinder unter sein Gesetz zwingen“. Alle – das heißt den Kapitalisten, „den Auserwählten“ des göttlichen Kapitals, zu dessen Pflichten es gehört, „mit demselben Gleichmut“ das Geld einzustreichen, egal ob es mit „Tränen benetzt“, „Blut befleckt“ oder „Kot beschmutzt“ ist. Das umfasst die Kurtisane, die in ihrer Predigt beschwört, dass sie über „Tausende junger und starker Arbeiter“ gebiete. Aber das umfasst auch den Lohnarbeiter, der „nicht mit Worten betet“, sondern mit seiner Arbeit, und dessen Katechismus nicht etwa vorschreibt, an Generalstreik, Partei oder Marxismus zu glauben, sondern nur das Kapital „in Ewigkeit“ als den einen und wahren Gott anzusehen.

Gewiss – der „Katechismus des Arbeiters“ ist genauso wie die „Predigt der Kurtisane“ oder der Pflichtenkanon des Kapitalisten nur ein Dokument des Kongresses von London, einer fiktiven Versammlung der bürgerlichen Elite im 19. Jahrhundert, die, um den sozialistischen Ideen etwas entgegenzusetzen, die Dogmen einer neuen Religion formuliert. Paul Lafargue hatte diese satirisch gemeinten Pamphlete unter dem Titel „Die Religion des Kapitals“ erstmals am 27. Februar 1886 in der Zeitschrift Le Socialiste veröffentlicht.

Gewissen und Gefäß Gottes

Doch diese Schrift, die an Witz und sprachlicher Brillanz den Vergleich mit großen politischen Satirikern des 19. Jahrhunderts wie Heinrich Heine oder Charles Dickens nicht zu scheuen braucht, enthält nicht nur bissige Ironie. Auch in einem späteren Essay schrieb Lafargue: „Die kapitalistische Entwicklung hat die Menschheit auf ein so niedriges Niveau hinuntergedrückt, dass sie nur noch ein Motiv kennt und kennen kann: das Geld. Das Geld ist der große Motor, das Alpha und Omega aller menschlichen Handlungen geworden.“ Das Kapital also ist die Triebkraft der Geschichte und nicht der Klassenkampf, wie es die marxistische Orthodoxie vorschreibt.

Die Gründe für diese eher pessimistische Sicht enthüllt der französische Philosoph Jean-Pierre Baudet, der zur deutschen Neuausgabe von „Die Religion des Kapitals“ ein lesenswertes Nachwort beisteuerte – und darin Lafargues Überlegungen in eine aktuelle Kritik des Kapitalismus überführt: Lafargue habe bereits früh erkannt, dass das Kapital „als System der Verwertung und des Wertes“ vor keiner natürlichen Form Halt mache und sich in allen Substanzen aufhalte. Es sei immer schon da, überall in der materiellen Welt – als ihr „Gewissen“, als „das Gefäß Gottes“.

Aus dem Bedürfnis der Menschen im 5. und 6. Jh. v. Chr., die Vielfalt der Welt auf eine alleinige Quelle zurückzuführen, sei die bis heute grassierende Idee von der Urmaterie entstanden. Da es die Religion nie dauerhaft vermocht habe, den Makel und die Schwäche eines göttlichen Gesetzes zu vertuschen, verwirkliche das Kapital die Religion und wende sie an – als „großes Vernichtungssystem des Lebens“. So wie Götter Opfergaben forderten, verlange auch das Kapital „wie ein endloser Scheiterhaufen, dass Naturalgüter auf dem Altar des Profits verbrannt werden“. Die Transzendenz erfahre hierdurch ihre Immanenz, das Jenseits wird zum Diesseits – und die Religion „bürgere“ das Kapital ein. Anders als Marx sieht Lafargue die Religion nicht in der Ideologie begründet, sondern im materiellen Aufbau des Kapitals, für ihn ist sie nicht das kollektiv organisierte Reich individueller Wunschträume, sondern Ausdruck wirklicher Kapitalverhältnisse, nicht irrational, sondern versteckte Rationalität.

Für Lafargue ist das Kapital ein allgegenwärtiger „Geist“, fähig, alles umzuwandeln und zu zerstören: So verwandeln sich Pullover in Brezeln und Eichhörnchen in Giraffen – immer weil sie sich zuerst in Geld verwandeln. „Der Mensch sieht, fühlt, riecht und schmeckt meinen Körper“, schreibt Lafargue, „aber meinen Geist, der feiner ist als Äther, nehmen meine Sinne nicht wahr.“ Das Unsichtbare regiert das Sichtbare – das ist das Prinzip jeder Religion.

Gewaltige Tauschorgie

Die Kurtisane wird dabei zum Symbol des kapitalistischen Wachstums: „Sie erhebt die Verschwendung in den Rang einer sozialen Tugend und steigert ihren Luxus und ihre Ansprüche in einem Maße, dass die Industrialisierung der Produktion zum Fortschritt gezwungen ist.“ Die Kurtisane ist „der Schutzgeist, der Handel und Gewerbe belebt und kräftigt“.

Eine gewaltige Tauschorgie ist darum das Schicksal der Welt, sie wird zermalmt, kleingemahlen und aus den Angeln gehoben, so dass die Gletscher schmelzen und das Ozonloch wächst. Präzis erhellt Baudet die philosophischen Gründe von Lafargues eher künstlerischen Intentionen und entwickelt sie weiter. Aber es verwundert, dass bei beiden nicht der Begriff des (christlichen) Universalismus fällt.

Sicher, die Genese der „Religion des Kapitals“ lässt sich von seinen griechischen Ursprüngen über das Christentum und Calvin bis hin zum angelsächsischen Pragmatismus zurückverfolgen. Doch es gab und gibt auch Religionen sogenannter primitiver Kulturen, deren Tauschgebaren kaum zu einer ähnlichen Ökonomisierung des Daseins führen würde. Es scheint also, als habe Lafargue bereits zu seiner Zeit vor der universalen Faszinationskraft des kapitalistischen Systems gedanklich kapituliert. Er, der mit seiner Schrift „Das Recht auf Faulheit“ schon früh die baldigen Grenzen der Erwerbsarbeitsgesellschaft ironisch in den Blick nahm, erweist sich auch in diesem Text als Prophet.

Paul Lafargue: „Die Religion des Kapitals“. Matthes & Seitz, Berlin 2009. 174 Seiten, 14,80 Euro