BETTINA GAUSPOLITIK VON OBEN
: Was nicht vorkommt

Normalität – auch inmitten des Chaos – gilt als langweilig. Medien suchen gern nach der Katastrophe in der Katastrophe. Das hat mitunter machtpolitische Folgen

Wie viele Nachrichten es gibt, die die Welt nicht braucht, kann man jeden Tag aus Presse, Funk und Fernsehen erfahren. Aber welche Nachrichten bekomme ich nicht, obwohl ich sie bräuchte – aus organisatorischen Gründen oder für eine präzisere Einschätzung der Weltlage? Keine Ahnung. Ich erhalte sie ja nicht. Und das fällt nur auf, wenn man mal dringend auf eine Meldung wartet. Die nicht kommt.

Als es kürzlich zur allgemeinen Überraschung schneite – mitten im Winter! –, saß ich in Dresden und wollte am folgenden Tag zurück nach Berlin. Da in Nachrichtensendungen der Eindruck erweckt wurde, eine Naturkatastrophe stehe vor allem im Osten Deutschlands unmittelbar bevor, hätte ich gerne gewusst, ob die Züge in Sachsen noch halbwegs planmäßig verkehrten.

Sie fuhren. Das jedoch war keine Katastrophe, sondern wäre nur ein nützlicher Hinweis gewesen für Tausende von Reisenden, die sich den Anruf bei der Hotline der Deutschen Bahn hätten sparen können. Aber eine Katastrophe war versprochen worden, also musste auch über eine Katastrophe berichtet werden. Und so informierte kein einziger Fernsehsender – weder die öffentlich-rechtlichen noch die privaten – über die Verkehrslage. Stattdessen wurde Stunde um Stunde zu tapferen Korrespondenten nach Oberbärenburg im Erzgebirge geschaltet, wo es einige Schneeverwehungen gab.

In den nächsten Monaten möchte ich die Lebensbedingungen der Mittelschicht in afrikanischen Ländern recherchieren. Viele Leute, denen ich davon erzähle, schauen mich so verwirrt an, als kündigte ich an, mich über Marsbewohner informieren zu wollen. Mehrfach entfuhr jemandem ein spontanes „Gibt’s die?“. Als ob in Afrika ausschließlich arme Opfer (massenhaft), böse Täter (einige), fröhlich-naive Exoten (vor allem in Touristengebieten) und edle ausländische Helfer lebten.

Nein, das ist kein Plädoyer dafür, doch nicht immer so „negativ“ zu berichten. Wenn Schreckliches geschieht, dann haben die Opfer einen Anspruch darauf, dass ihr Leid wenigs- tens zur Kenntnis genommen wird. Und auf Hilfe, so weit möglich.

Aber wer zu schnell die Apokalypse beschwört, hat keine Steigerungsmöglichkeiten mehr, und wer Normalität – oder Reste von Normalität – nicht zur Kenntnis nimmt, erfährt nichts über die stabilisierenden Kräfte der Zivilgesellschaft. Wenn der Eindruck entsteht, dass ausschließlich das Chaos herrscht, dann muss jeder mitfühlende Mensch dankbar und erleichtert reagieren, sobald jemand die Zügel in die Hand nimmt, und bediene sich dieser Jemand dabei noch so martialischer Mittel.

Die immer stärkere Zuspitzung auf Dramen und Sensationen in Fernsehen und Internetmedien hat keine machtpolitischen Motive, sondern merkantile. Aber sie hat machtpolitische Folgen.

Die Autorin ist politische Korrespondentin der taz Foto: A. Losier