die kurzgeschichte
: Feiertagsblues

Eine Erzählung zwischen den Jahren, von Frank Schäfer. Teil 2: Geradeaus oder Das Winnetou-Gefühl ist weg

Es regnete in Strömen. Friedrich hatte bereits zwei Gläser Glühwein im Leib, roten Heringssalat, eine Bockwurst und ein Pfund selbstgebackener Kekse, als er bei Knüppel vorfuhr. Seine Scheinwerfer überführten Gerd und Bernie, die wie zwei Einbrecher an der Hauswand entlangschlichen, um an das Wintergartenfenster zu klopfen. Sein rechter Zeigefinger morste zweimal kurz an der Lichthupe, und die beiden hoben sich ergebend die Hände. Friedrich ließ das Fenster herunterfahren, lehnte sich heraus und knurrte hollywoodesk: „Aaaah, alte Bekannte!“

Knüppel machte ihnen die Tür auf und vollzog mit einem ruhigen Shaolin-Lächeln die Begrüßungsliturgie. Seine Frau Tanja ließ gerade einen anderthalb Liter Klops Vanille-Eis in das kleine Tischaquarium plumpsen und goß die diversen Flüssigkeiten drüber, schließlich noch den Fruchtsalat. „Hmmm“, schnurrte Bernie genüßlich.

„So, Schatz, den Rest können wir dann allein“, grinste Knüppel. „Ich wäre sowieso ins Bett gegangen“, sagte sie, nahm die Gäste zur Begrüßung in den Arm und ermahnte ihren Mann, daran zu denken, daß er morgen wieder, und zwar spätestens um 12 Uhr, etwas Festes zu sich nehmen müsse. „Das gleiche gilt für euch ... Pack“, rief sie noch über die Schulter. „Nacht!“

Sie setzten sich an den Wohnzimmertisch, Knüppel brachte die Bowle-Gläser und kellte sie schön voll. „Schon gehört? Matze kommt nicht“, sagte er leichthin, aber die steile Stirnfalte sagte etwas anderes. „Warum? Er ist doch hier, in Giffendorf ... Ich habe sein Auto gesehen, als ich hergefahren bin.“ Gerd verzog angewidert den Mund.

„Stimmt“, sagte Knüppel. „Aber er muß arbeiten, setzt sich nur zu den Mahlzeiten mit an den Tisch und keult Weihnachten durch. Hat er jedenfals erzählt. Macht wohl gerade den Auftritt für ein Internet-Radio ... Die wollen im Januar senden ...“

Friedrich erzählte, vor zwei Wochen habe Matze noch bei ihm angerufen und mit seinen Erfolgen geprahlt. Nach zwanzig Minuten Geschäftstalk, natürlich die ganze Zeit den Tetra-Pak Rotwein am Hals, habe er dann doch wieder „seinen Russischen gekriegt“.

Friedrich machte ihn nach. „Alle habense mich gewarnt, laß dich nicht einfangen – und was ist? Auf einmal biste sechsendreißig, hast ne Frau, hast ein Kind, den Arsch voll Arbeit und keine Zeit mehr für irgendwas. Ich wollte so nicht leben und jetzt muß ich‘s doch ...“ Bernie grinste. „Hat Matze das gesagt? Oder sagst du das?“ „Na, du als Amtmann kannst so nicht reden, das ist klar ... Zeit hast duuu ja genug.“ Knüppel grinste Friedrich an, und der bedankte sich bei ihm mit einem steilen Daumen. Dann erzählte er weiter. „Na, jedenfalls beklagte er sich darüber, daß er keine Freunde mehr habe. Wir kämen ihn auch nicht mehr besuchen ...“

Gerd ging aufgebracht dazwischen. „War der überhaupt irgendwann mal bei mir und hat mich besucht?“ „Ja, ich weiß ... Aber was er, glaube ich, meinte ... Mann, woran liegt das, daß da schon so lange der Saft raus ist? Man macht da so vor sich hin, aber dieses Winnetou-Gefühl fehlt, keine Ahnung ...“ Friedrich löffelte den Eisschaum ab und trank dann einen großen Schluck. „Schmeckt ja gar nicht nach Alkohol.“ – „Soll ich dir sagen, woran das liegt?!“ Knüppel breitete die Arme aus, als wollte er ihn umarmen. „Ja, ich bitte doch darum ... Aber bei der nächsten Mischung bitte für mich etwas weniger Frucht.“ – „Das liegt genau daran: Früher, weißte, früher war das ein steiler Anstieg.“ Er machte eine flache Hand und ließ sie mit Kinderdüsentriebgeräuschen bei einem sechzig-Grad-Neigungswinkel nach oben schnellen. „Und in ein paar Jahren geht‘s“, seine flache Handfläche knickte ein, wieder dieses infantile Brummen, dann folgte die gegenläufige Handbewegung nach unten, „genauso steil abwärts. Aber jetzt sind wir da oben auf der Hochebene“, seine flache Hand beschrieb eine Horizontale auf Augenhöhe, ganz langsam und ohne akustische Untermalung, „es geht nur noch scheißgeradeaus ... Deswegen habe ich auch ... ach, egal ...“ – „Was hast du?“ Bernie starrte ihn an, als hätte Knüppel etwas verbrochen, und er müßte das jetzt wieder ausbaden. Aber Friedrich ließ ihm keine Zeit zu antworten.

„Ich meine was ganz anderes ... Dieses Gefühl, daß wirklich keiner von uns austauschbar war, daß es nur in dieser Kombination ging, daß wir zusammen mehr waren als die Summe der Einzelpersonen ... Ich weiß nicht, wann das verloren gegangen ist, aber weg ist es jedenfalls, da hat Matze recht.“ „Einen Scheiß hat Matze“, rief Gerd und knallte seinen Becher auf den Tisch. „Vollmachen!“, ranzte er Knüppel an, und der grinste. Es wurde langsam weihnachtlich. Und dann erhob Gerd sein wieder volles Glas und räusperte sich. „Wir trinken jetzt in aller Ruhe aus und holen Matze ab ... und fahren zur Bushaltestelle.“