Irrtum und Tod

VON WALTRAUD SCHWAB

Brigitte Maria Mayer erlaubt den Blick auf jeden Zentimeter ihres Körpers. Sie gibt sich als Gesehene preis, als eine, die sich begaffen lässt: Ihre Achselhaare, ihre langen Beine, ihre Scham, ihre Brüste, ihr Bauch, in dem das Kind heranwächst, dessen Vater Heiner Müller ist – alles ist öffentlich. Selbst das langsame Sterben des Dramatikers wird von der Fotografin offen gelegt. „Der Tod ist ein Irrtum“, schreibt Müller. So heißt auch der Bildband, den Mayer, seine letzte Lebensgefährtin, soeben fertig gestellt hat und in dem die Dokumente ihrer kurzen Liebe versammelt sind.

Aber Heiner Müller, dessen Todestag sich am 30. Dezember zum zehnten Mal jährt, ist nur ein Vorwand. Er wird gebraucht, um der Frau, die nun in den Vordergrund tritt, einen Fixpunkt zu geben. Sie heißt Brigitte Maria Mayer. Ihr Name soll immer wieder gesagt werden, damit er sich einprägt in seiner Einfachheit. Mayer – Mayer – Mayer, Litanei des Banalen. Das passt nicht zu einer, die das Extreme so liebt wie sie.

Schonungslos gegen sich selbst ist sie. So soll es bereits gewesen sein, als sie vor 20 Jahren in Kassel wohnte und Kunst studierte. In ihrer Fabriketage gab Mayer Performances, die ihren Körper zum Exerzierfeld machten. In den Achtzigerjahren war das bei Künstlerinnen nicht ungewöhnlich. Valie Export ritzt sich, bis sie blutet, Marina Abramovic traktiert ihren Körper auf jede erdenkliche Art, Orlan lässt sich ihr Gesicht ständig umoperieren. Die Grenzen des weiblichen Körpers werden durchstochen, um soziale Begrenzungen, denen Frauen unterliegen, sichtbar zu machen.

Der Körper als Projektionsfläche

Mayer sieht sich in dieser Tradition, obwohl ihre Inszenierungen ichbezogener sind: „Cool, pubertär, verrucht“, sagt sie. Drogen? „Ja. Wenn man jung ist, kann man es machen. Später wird es albern, oder man verliert sich darin.“

1989, sie ist 24, geht sie nach Berlin. Sie folgt einer Frau, in die sie sich verliebt hat. Sie sei getrieben gewesen, auf der Suche. Auf der Suche nach was? „Nach etwas, das mich von der Todessehnsucht zurückhält“, meint sie und greift nach einer Zigarette. Wie sieht Todessehnsucht aus? Da erzählt sie, dass sie bei einer ihrer Performances ihr eigenes Begräbnis aufgeführt habe.

Ihre Sucht nach dem Abgrund bringt sie mit dem Tod ihres Vaters in Zusammenhang. „Ich war acht, als er sich umbrachte.“ Er sei im Krieg zur See gefahren. Viel mehr ist nicht von ihrer Familie zu erfahren. Nur ein Stichwort fällt noch: „schwierige Mutterbeziehung“.

Dann also Berlin. Auf dem Küchentisch in ihrer Kreuzberger Fabriketage, die unbewohnt wirkt, liegt ein Exemplar ihres Buches „Perfect Sister“. Im Stil der Zwanzigerjahre sind auf den Fotos Frauen in scheinbar erotischer Exstase gefangen. Leder und Zügellosigkeit, Tabubruch und Kontrolle, Spitze und Stöckelschuh – kein Klischee wird ausgespart.

Die Abgebildeten sind jedoch nicht nur Models, sondern auch ihre Bekannten; die Bilder sind nicht nur gestellt, sondern gelebt. Mayer bewegte sich in einer Berliner Lesbenszene, in der die Verdinglichung des Körpers en vogue war. In ihrem Leben sei es um eine beständige Vermeidung jeglicher Form von Alltag gegangen, erklärt sie. Was sie ansprang, dem sei sie nachgegangen.

Heimat ist ihr die Szene dennoch nicht. Als sie 1990 auf der Frankfurter Buchmesse einen Verlag für „Perfect Sister“ sucht, lernt sie dort den 36 Jahre älteren Heiner Müller kennen. „Anziehung auf den ersten Blick.“ Es hört sich wie „Blitz“ an. Brigitte Maria Mayers Augen geben solche Assoziationen her. Von einem wasserleichten Grün sind sie, in dem sich, wären sie ein See, jeder spiegelte, der hineinschaute: Man kann sich erkennen in ihnen, sie aber bleibt unerkannt. Denn der Kontakt über die Augen funktioniert nur, wenn sie will. Schielen Sie? „Wie meinen Sie das?“, wehrt sie ab. Obwohl sie – Fotografin, die sie ist – alles sehen will, flüchtet sie aus den Gesichtern jener, die sie betrachten. Vielleicht hat Müller das gemeint, als er am 10. Dezember 1991 schrieb:

„In deinen Augen grau / wächst meine Kindheit stirbt / mein Tod“. Es ist seine „Liebeserklärung“. Grau nennt Müller die Augen der letzten Lebensgefährtin. Grau verschluckt alles, saugt es auf, deckt es mit einem nebligen Schleier zu. Müller muss geahnt haben, dass sein Leben mit ihr Anfang und Ende finden wird. In die fünf Jahre, die sie sich kennen, wird alles gepackt: Geburt, Krankheit, Tod und „Liebe ohne Bedingung“.

Neben dem Existenziellen trägt Heiner Müller noch etwas in die Beziehung: die Mythologie – eine intellektuelle Plattform für ihre Affekte. „Er hat neue Räume und Zeiten mitgebracht.“ Sie, die sich immer eingeengt vorkam, fühlt sich mit Müller frei. „Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, eine Bindung zu jemandem zu haben. Ich hatte das erste Mal Vertrauen.“ In der Zeit mit Müller lernt Mayer, in der Gegenwart zu leben. In seiner, ihrer und der des Kindes. Anna kommt 1992 zur Welt. „Die extreme Form des Leidens habe ich in der Schwangerschaft aufgegeben“, sagt sie.

Nach Müllers Tod aber fällt Mayer. „Die Größe der Wunde ist die Größe des Begehrens.“ Sie hält sich an ihrer fotografischen Arbeit fest. „Schmerzauslagerung“ nennt sie es. In der Fabriketage, die sie noch mit Müller bezogen hatte, die ihr aber nie ein Zuhause, nur eine Fluchtburg ist, aus der sie ständig ausziehen will, baut sie ein riesiges Atelier auf und kleidet es mit olivgrünem Stoff – „der Farbe des Unheils“ – aus. „Es ist ein Raum, in dem man von vorne beginnen muss.“ Alptraumraum. „Ich träumte beständig, dass er geschändet wird. Vollscheißen, Vollpinkeln.“ Ein militärischer Raum sei es. „Der Alte überlebt. Die Jungen sterben.“ Zu diesem Thema hat sie vor dem olivgrünen Hintergrund ein Foto mit Bernhard Minetti und zwei jungen Männern aufgenommen. Der Alte schreit im Vordergrund, die Jungen hinter ihm aber fallen. Alle sind nackt.

In den meisten ihrer Arbeiten, die sie nun macht, werden die Akteure nackt sein. Entblößt. „In der Nacktheit sind sie sozial unentschieden.“ Sie wird die Körper zu Gruppen formieren, die archaisch, tierisch, schlangenhaft, manchmal auch gewalttätig wirken. Sie wird sie übereinander, nebeneinander, hintereinander stellen, wie Würmer, die sich ins Fleisch fressen, wie gestapelte Tote in Vernichtungslagern, wie Meuten, die über andere herfallen, wie Heilige, die entschweben. Ihre Fotografie ist ästhetisierte Lebensfeindlichkeit. Existieren kann sie von ihrer Arbeit dennoch.

In den vergangenen zehn Jahren hat die Farbe, in die sie ihr Studio kleidet, oft gewechselt. Auf Grün folgt Orange. „Ein Familienraum“ sei das gewesen. Ein Kokon. Bürgerliche Sehnsucht. Gehalten hat er nicht. Als Nächstes kam Blau. „Das war der Angstraum. Raum der Apokalypse.“ Ihre Laokoon-Bilder hat sie darin fotografiert, die Mutter-Maria-Allegorien. Schmerzgruppen sind es.

Schön und grausam

Auf den blauen folgt der weiße Raum. „Neuanfang“, sagt sie, um sofort in die Verneinung zu verfallen: „Auch weiße Hölle.“ Das Leichte, das Einfache hat bei Mayer keine Chance. Danach kleidet sie den Raum weiß-blau aus wie die bayerische Flagge: „Es ist ein Gral. Ich bin meiner Sexualisierung nachgegangen. Warum bin ich bisexuell? Mit was umgebe ich mich gerne? Ich halte mich zum Beispiel gern in türkischen Kneipen auf, wo Männer melancholisch vor sich hin starren.“ Dann fügt sie hinzu, dass die Räume ihr Lebensfaden seien. „Das Thema ist immer dasselbe.“ Aber was ist das Thema? Nach kurzer Überlegung meint sie: „Die Geburt aus dem Trauma.“ Und: „Ich habe Angst, einer schnellen Schönheit zu verfallen. Dass es nur schön und nicht mehr grausam ist.“

Weniger wohl überlegt gesagt: Manchmal sucht Mayer bis heute den Absturz. Sie nennt es „Entgrenzung“. „Vollmond“ und „Saufen“ sind andere Wörter, die fallen. Am nächsten Tag ginge es ihr schlecht, aber der Zustand erde sie. Nur wenn Anna, die heute 13-jährige Tochter, die dank eines Stipendiums im Internat in Salem ist, dabei sei, erlaube sie sich solche „Entgrenzungssituationen“ nicht. „Es ist gut, dass ich die Verantwortung habe.“

Mit einer Bierflasche in der einen, einer Zigarette in der anderen Hand steht Mayer in der Galerie in der Schröderstraße, in der gerade ihre Ausstellung eröffnet wird. Nur wenige Arbeiten sind zu sehen. Auf einer Fotografie drängen sich nackte Männer in Hundehaltung aneinander. Auf ihnen hockt ein Kind. An Abu Ghraib erinnere die Inszenierung, meint Mayer. Das Bild ist älteren Datums. Als wäre Abu Ghraib als Vermächtnis in der Fantasie vorhanden gewesen, bevor es öffentlich wurde.

Für die Fotoinstallationen im hinteren Galerieraum gilt allemal, dass die Wirklichkeit die Fantasie überholt hat: Dort kreist eine Horde Männer mit aufgerichteten Genitalien um eine am Boden liegende androgyne Person. Die psychosoziale Matrix, die durchscheint: Bedrohung, Vergewaltigung, Erniedrigung. Und die Realität: Vergewaltigung im Zweiten Weltkrieg, Bosnien, Darfur.

Dass Mayer aber wie verloren in der Galerie steht, das ist eine andere Sache. Das Verlorene gehört zu ihr. „Als würde mir ein Gen fehlen, das mir hilft, innen und außen zusammenzubringen.“

Seit kurzem ist das Studio mit pinkfarbenem Stoff bezogen. „War mal die teuerste Farbe, die Farbe der geistlichen Würdenträger. Jetzt ist es die billigste. Jetzt steht sie für Barbie und Porno.“ Magenta sei überall. „Die Farbe hat was mit Rausgehen zu tun. Mit Lebensfreude.“ Woher der Aufbruch denn käme? Sie kann die Frage nicht beantworten. Das Studio ist ganz frisch erst bezogen. Es ist noch neu. Was darin entsteht, weiß sie nicht. Sieht aus, als hätten Sie sich verliebt? Da bejaht sie.

In eine Frau oder einen Mann?

„Eine Frau.“